Der Unternehmer Klaus Gaiser war einer der Ersten, der Fleischersatz aus Seitan herstellte. Nun hat die Industrie das Geschäft entdeckt. Und lehrt den Vorreiter das Fürchten.
Bevor er die Produktionshalle betritt, schlüpft Klaus Gaiser in den weißen Taucheranzug. So nennen sie hier scherzhaft die Sicherheitskleidung aus Vlies. Dann führt der schwäbische Unternehmer durch seine Fabrik in Kernen im Remstal nahe Stuttgart. An Edelstahlregalen hängen Salami, Bauern-Knacker, Grill-Schnecke oder Chorizo. Es riecht nach Kardamom, Nelken, Pfeffer und Majoran. Gewürze, die zu Würsten passen. Auch die Maschinen und Anlagen stammen aus der Fleischverarbeitung: Kutter, Fleischwolf, Schälmaschinen und eine große moderne Räucheranlage. Nur totes Tier gibt es hier nicht.
Gaiser verkauft Fleisch, das keines ist. Seine Bio-Seitanwurst sieht aus wie echte und riecht auch so. Darauf legt er Wert. Seit mehr als zwei Jahrzehnten verwendet er viel Energie darauf, um den perfekten veganen Fleischersatz herzustellen. Wurstig soll es deshalb aussehen und schmecken, weil er nicht Veganer verführen, sondern den tierlieben Fleischesser überzeugen möchte. Und der will heute Tierschutz mit Fleischgeschmack. „Ich komme den Menschen da entgegen." Gaiser will nicht missionieren, sondern Alternativen bieten. „Ich mache, was ich selber gern esse, und ich esse gern deftig", sagt der untersetzte Mann. Er ist selten in der Fabrik, aber trotzdem trägt er lieber Karohemd und Weste statt Anzug und Krawatte.
Die beliebte Produktlinie aus dem Hause Topas heißt Wheaty. Das Wort ist eine Anlehnung an Weizen, denn Seitan wird aus Weizenmehl und Wasser hergestellt. Das ist die Basis. Heute umfasst das Wheaty-Sortiment an die 50 Produkte. Täglich laufen bis zu sieben Tonnen Weizenfleisch vom Band. Drei Viertel davon setzt er in Deutschland ab. Ein Viertel exportiert er ins europäische Ausland. In den vergangenen zwei Jahren fragten die Franzosen den größten Teil nach. „Die sind im Kommen", sagt Gaiser.
Die Wurstfabrik erinnert an die Siebzigerjahre. Partyraum, Dachterrasse und Kamin zeugen von einer Zeit, als man in Deutschland als Fleischproduzent noch protzen konnte. Einst hat ein Wurstfabrikant hier produziert, dann hat Gaiser den Laden gekauft. Für kleine Betriebe lohnt sich das Fleischgeschäft nicht mehr. 1950 kostete ein Kilogramm Schweinefleisch noch 1,6 Prozent des monatlichen Nettoverdienstes, 1975 immerhin noch 0,58 Prozent, 2002 waren es nur noch 0,28 Prozent. Abgesehen von Nordrhein-Westfalen haben in weiten Teilen Deutschlands mehr als 90 Prozent der Betriebe in den vergangenen 15 Jahren die Haltung von Schweinen oder Geflügel aufgegeben.
Gaisers Branche dagegen floriert. Der 64-Jährige ist einer der größten Seitan-Produzenten in Europa und gilt als Pionier. Vegan ist in: 2014 lag der Umsatz von Gaisers Firma bei fast neun Millionen Euro. In den vergangenen 20 Jahren ging es für sein Unternehmen immer bergauf. Nun allerdings wird das Geschäft schwieriger, denn mittlerweile haben die Wurstfabrikanten den Markt entdeckt. Seit einiger Zeit fühlt sich der Pionier bedroht, nicht von Gleichgesinnten, sondern von den Großen. Allen voran das Unternehmen Rügenwalder Mühle. Seit 2014 bringt der Wurstfabrikant vegetarischen und ein Jahr darauf auch veganen Fleischersatz in die Supermarktregale - begleitet von einer 20-Millionen-Euro-Werbekampagne. Die zahlte sich schnell aus. „Der Umsatz erreichte bereits nach einem Jahr 40 Millionen Euro", sagt Godo Röben, Marketing- und Entwicklungschef bei Rügenwalder. Der Erfolg habe nur die Kollegen überrascht, nicht ihn. Der Mann, der den Claim erfunden hat, die Wurst sei die Zigarette der Zukunft, gibt sich selbstbewusst und seiner Sache sicher.
Im Visier der Branche: der Flexitarier„Wer den Markt nicht verstanden hat, denkt, vegan ist nur ein Trend", ist noch so ein Satz, den Röben locker dahersagt. Tatsächlich haben im vergangenen Jahr viele Konkurrenten wie Windau, Herta oder Wiesenhof nachgezogen. Manche setzten gleich auf vegan. „Alle Wiesenhof-Veggie-Produkte sind auf rein pflanzlicher Basis und entsprechen damit den Ansprüchen von Veganern", sagt die Firmensprecherin Maria Große Böckmann. Drei bis fünf Prozent vom Wurstmarkt wolle man so erobern.
Auch bei Windau, der Nummer zwei in der Branche, freut man sich über das neue Geschäft. „Wir machen 80 Millionen Euro Umsatz und sind in 8000 Läden gelistet", sagt der Geschäftsführer Thomas Maruschke. Knapp acht Prozent machten davon im ersten Jahr die fleischlosen Alternativen aus. Das Ziel seien zehn Prozent.
Bei allen Wurstfabrikanten stehen weitere solche Produkte vor der Markteinführung. Ihnen fällt es leicht, vegetarische oder vegane Neuheiten auf den Markt zu bringen, denn sie können dazu ihre vorhandene Technik nutzen. „Wir substituieren lediglich das Schweinefleisch", sagt Maruschke. Und dass man deutlich effizienter produzieren könne als die Ökohersteller.
Das hat auch Gaiser erkannt: „Die kommen mit einer enormen Schlagkraft daher." Er weiß, dass er da nicht mithalten kann und deshalb sein Innovationsgeist gefragt ist. Auch er will Geld verdienen, doch das war nicht sein Antrieb. Als der Sinologie- und Japanologie-Student Ende der Siebzigerjahre in seiner WG-Küche begann, erstmals Tofu herzustellen, gab es in der Branche noch kaum Geld zu verdienen. Er und ein weiterer deutscher Hersteller aus dem Bayerischen Wald waren Anfang der Achtzigerjahre die Ersten, die den Sojabohnenkäse an Reformhäuser verkauften. Gaiser hatte Freude an dem exotischen Produkt. Und sagt heute: „Vielleicht war es ein bisschen Obsession." Jedenfalls sah er von einer akademischen Karriere ab und gründete seine erste Firma, die Yamato Tofuhaus GmbH.
Mitte der Achtzigerjahre wuchs der Ökomarkt, einen Schub bekam er 1986 durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Als ihm ein Unternehmen für seine damaligen Begriffe „unverschämt viel Geld" bot, verkaufte Gaiser 1989 Teile des Yamato Tofuhauses. 1992 verließ er die Firma endgültig. „Ich wollte etwas ganz Neues machen."
Gaiser besann sich auf die zweite große Tradition, die er in Ostasien kennengelernt hatte, die Seitan-Herstellung. Gemeinsam mit seiner finnischen Frau Sanni gründete er 1993 die Firma Topas. Er sah schon damals in der pflanzlichen Ernährung die Zukunft, zu einer Zeit, als Soja-Latte noch nicht auf der Karte von Großstadt-Cafés stand.
Der Firmensitz von Topas befindet sich in Mössingen. Bis Stuttgart sind es nur 50 Kilometer. Der Ort liegt inmitten eines Streuobstwiesengebietes am Fuß der Schwäbischen Alb. Auf 20 000 Einwohner kommen 40 000 Streuobstbäume. Ein friedlicher Ort für ein Familienunternehmen.
Gaisers Frau und die fünf Kinder sind alle ein Teil von Topas. Sie übernehmen Aufgaben, die Gaiser selbst ein Graus sind. Seine Frau wickelt die Aufträge und den Versand ab. Eine der Töchter leitet die Personalabteilung, der mittlere Sohn unterstützt ihn in der Geschäftsführung. „Er hat eine sehr gute Ader, einen Betrieb konsequent zu führen. Ich dagegen habe mich nie für einen begnadeten Kaufmann gehalten", sagt Gaiser.
Dank dieser Arbeitsteilung kann sich der Chef auf das Wesentliche konzentrieren: das Entwickeln immer neuer Produkte. Er tüftelt jede Woche an neuen Rezepturen. „Ich habe nun mal die meisten Ideen", sagt er. Seine Produktentwicklerin arbeitet ihm lediglich zu. Erst allmählich lässt der Mann, den die Lokalpresse schon mal den „Steve Jobs des Ernährungswesens" nannte, die Meinung anderer gelten. „Das mache ich aber aus rationalen Erwägungen, weil man mir sagt, dass wir auch ein mildes Würstchen für Kinder brauchen."
Gaisers Ehrgeiz bestand von Anfang an darin, seine Produkte so fleischähnlich wie möglich zu machen. „Früher musste man sich nicht um solche Sachen kümmern, doch mit der Zeit kam der Wunsch der Kunden nach einem faserigen Aufbau." Die Ideen seien ihm zugeflogen. „Und sie haben sich oft erst Jahre später als richtig erwiesen." Er versucht bescheiden zu klingen, ist in Wahrheit aber sehr stolz auf sich. Auch weil viele Konkurrenten aus der Biobranche nachzogen. Denn Fleischersatz verkauft sich besser, wenn er so heißt und aussieht wie ein Grillsteak statt wie ein Bratquadrat.
Die größte Zielgruppe für diese Produkte wurde mal gesundheitsfixierte Hedonisten, mal Teilzeit- oder Lifestyle-Veganer genannt. Heute hat sich die Bezeichnung Flexitarier durchgesetzt. Das sollen einer Forsa-Umfrage zufolge 42 Millionen Bundesbürger sein, deutlich mehr als die 7,8 Millionen Vegetarier und 900 000 Veganer. Die Flexitarier mögen Fleisch, möchten aber ihren Konsum reduzieren oder ihren Speiseplan erweitern.
Nun gibt's Zoff in der Veggie-SzeneWas die Branche ihnen bietet, zeigt sich auf der Biofach. Die weltweit größte Fachmesse findet immer im Februar in Nürnberg statt. Mehr als 2500 Aussteller präsentierten 2016 rund 48 000 Fachbesuchern ihr Sortiment. Vegan war hier schon immer ein Thema, doch seit zwei Jahren gibt es eine eigene „Erlebniswelt" mit Imitaten: vom veganen Feta über Käsekuchen und Thunfischsalat bis hin zu Riesengarnelen. Vor allem Leute mit wenig Zeit fragten nach diesen Dingen, sagen die Aussteller.
Hinter der Topas-Theke braten Gaisers Mitarbeiter Seitan-Würstchen und -Steaks im Akkord. Während andere Aussteller Löcher in die Luft starren, stehen die Leute bei Topas Schlange, um einen Happen zu probieren. Der Schwabe kommt seit einem Vierteljahrhundert zur Messe, sie ist für ihn ein Trend-Indikator. Einen ganzen Tag lang ist er mit seiner Produktmanagerin durch die Hallen gelaufen, um zu sehen, was die Biokonkurrenten sich haben einfallen lassen.
Doch auch konventionelle Hersteller lassen sich von dem Angebot mehr als nur inspirieren. Vegan ist nicht mehr automatisch bio - das Segment ist auch für die Fleischindustrie hochinteressant. Ende Februar hat das Institut für Handelsforschung (IFH) in Köln einen Branchenreport veröffentlicht. Besonders umsatzstark sind demnach vegetarische und vegane Fleischalternativen, Brotaufstriche und Müslis sowie Milchalternativen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der vergangenen fünf Jahre betrug fast 17 Prozent - von 2014 auf 2015 gar 25,9 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden mit diesen Warengruppen 454 Millionen Euro umgesetzt. „Wir gehen davon aus, dass der Markt weiterwachsen wird", sagt Susanne Eichholz-Klein vom IFH. Die vegane Bewegung sei jung und dynamisch: „Die Leute tauschen sich aus." Prominente wie der Kochbuchautor Attila Hildmann befeuern den Hype.
Gaiser ist klar, dass die Wurstfabrikanten sich nicht mit ihrem Marktanteil begnügen werden. Dank ihrer Größe schaffen sie es mit ihren Produkten auch leichter in die Supermärkte. So liegen exponiert und in eigenen Regalen die falschen Hackbällchen, Steaks und Lyoner bei Tegut, Rewe und Edeka. Auch bei manch einem Discounter ist Veganes erhältlich.
Der von Gaiser früh umworbene Flexitarier erweist sich als treuloser Geselle. „Die konventionellen Hersteller sprechen einen Teil unserer Kunden an. Manche dieser Leute gehen uns fremd." Es seien vor allem die, die vorher schon Wurst aus dem Supermarktregal gekauft haben. Die sich nicht so sehr an Zusatzstoffen stören und für die vegan aus der Fleischfabrik kein Problem darstellt.
Umso mehr verstimmt Gaiser und andere aus der Bioszene, dass auch der Vegetarierbund Deutschland (Vebu) keine Berührungsängste mit großen Unternehmen wie Rügenwalder, Frosta oder Haribo hat. So prangt der gelbe Kreis mit dem grünen V nun häufiger auf konventionellen Produkten im Supermarkt. Das weltweit bekannte Label der Europäischen Vegetarier-Union wird in Deutschland vom Vebu vergeben. Mehr als 400 Lizenznehmer zeichnen mittlerweile rund 5000 Produkte damit aus.
Gaiser ärgert diese Expansion so sehr, dass er - wie unlängst auch die Familienfirma Lord of Tofu - den Vebu verlassen hat. Die Aussteiger sehen in der Kooperation mit der Industrie einen Verrat an Grundprinzipien wie Tierschutz und nachhaltigem Wirtschaften. Hinzu kommt, dass Bioprodukte in vielen Supermärkten ausgelistet werden, weil die Lebensmittelgeschäfte Vegetarisches und Veganes nun auch bei ihren konventionellen Lieferanten erhalten, wo die Produkte deutlich billiger sind.
„Wir haben die Sache vorangetrieben, und jetzt kommen die ganz Großen und werden hofiert. Wie die sich jetzt an die schlimmsten Tierquäler ranschmeißen, finde ich unter aller Kanone", sagt Gaiser. Stephanie Stragies, Sprecherin des Vebu, betont, dass die Vergabe des V-Labels „von allen weiteren möglichen Kooperationen mit Unternehmen" unabhängig sei. „Es bezieht sich lediglich auf die Inhaltsstoffe der zu lizenzierenden Produkte. Wir sind offen für alle. Die Anfragen steigen sehr stark. Wir bekommen derzeit bis zu zehn am Tag." Die Siegelvergabe an große Hersteller sei eine Chance, das Label bekannt zu machen. „Die kleinen Hersteller sollten durch innovative Produkte den Markt weiter antreiben." Trends verschlafen dürften sie allerdings nicht, so ihr Fazit.
Godo Röben von Rügenwalder sieht die Sache so: „Für uns ist das eine Win-Win-Situation, für manche Ökopioniere vielleicht nicht." Aus seiner Sicht wird Öko immer eine Nische bleiben. Und den Erfolg seiner Firma sieht er nicht in ihrer Marktmacht begründet, sondern im Geschmack der Produkte.
Gaiser hat Konsequenzen aus der neuen Lage gezogen und Ende vergangenen Jahres eine neue Produktserie namens Meetlyke auf den Markt gebracht. Die Basis ist auch Seitan, aber nicht bio. „Natürlich ist es für mich nicht egal, ob konventionell oder bio. Aber wenn ich nur konventionell derart verblüffend nah an Fleischprodukte herankomme, dann sind das die effektiveren Alternativen", sagt er. Um die Masse der Flexitarier anzusprechen, ist auch er flexibler geworden.
Herr Gaiser baut ausDass er die Produkte zunächst recht zaghaft auf den Markt brachte, liegt auch daran, dass er zuletzt nicht mehr so viel produzieren konnte, wie angefragt wurde. Im vergangenen Jahr verzeichnete er nur noch einen Umsatzzuwachs von fünf Prozent. Bei Topas ist man an der Kapazitätsgrenze angelangt. Obwohl Gaiser in neue Maschinen investiert hat, wird er auch in diesem Jahr nicht mehr Ware herstellen können.
Um auch so effizient zu werden wie die Großen des Geschäfts, braucht er eine erweiterte Produktionsstätte, mehr Maschinen, mehr Mitarbeiter. Derzeit arbeiten lediglich 80 Festangestellte und etwas mehr als 20 Aushilfen bei ihm. Zehn Millionen Euro will er dieses Jahr zu diesem Zweck investieren. Geplant ist eine mo-derne, solarbetriebene Produktionsstätte in Mössingen. „Wir wollen möglichst viel unserer ökologischen Ethik umsetzen." Das sei er seiner Klientel schuldig. Glaubwürdigkeit sei in seiner Branche besonders wichtig. Er habe zwar beobachtet, wie Firmen mit einer, wie er sagt, „weniger guten Ethik, aber mit einem guten Marketing" sich ihren Platz erkämpft haben. Doch für Topas komme das nicht infrage. „Wenn wir nur auf Profitmaximierung abzielen und nichts auf die Umwelt geben würden, dann würde uns das massiv schaden."
Dass sein Unternehmen trotz der übermächtigen Konkurrenz eine Zukunft hat, davon sei er überzeugt, sagt Gaiser - sonst ginge er als Schwabe nicht ein solches Risiko ein. Dennoch erscheint die im Verhältnis zur aktuellen Firmengröße gewaltige Investition wie eine Flucht nach vorn.
Darauf angesprochen, wird der Seitan-Pionier grundsätzlich: „Die globalökologischen Fakten werden uns irgendwann zwingen, umzuschalten." Dann will er vorbereitet sein und den Großen vielleicht wieder einmal einen Schritt voraus. ---
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