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Reportage

So ein Getue um an Camembert

Hat meine Ur-Ur-Oma den Obazdn erfunden?


Der Obatzde ist aus keinem Biergarten wegzudenken, ein bayerisches Kulturgut, seit einem Jahr sogar von der EU geschützt. Unsere Autorin ist überzeugt, dass ihr ein Teil des Ruhms gebührt – ihre Ur-Ur-Großmutter soll den Obatzdn erfunden haben. Eine Spurensuche in Freising.

„Es war Winter, und es war schon dunkel draußen”, erzählt meine Oma von dem Moment, in dem unsere Familienehre begründet ist. „Das Bräustüberl war eigentlich schon zu, s'is ja Kriegszeit gwesn. Da ist noch ein Mann reingekommen, elend hat er ausgschaut, und wollt unbedingt was zu essen. Und da hat die Wirtin gmeint, wenn er keine Ansprüche hat, na gut dann macht's ihm noch was. Und da hat's noch an Camembert g'habt, Butter und Zwiebeln, und dann hat's Gewürze drunter. Des hat dem gschmeckt, und dann bald hat die Wirtin g'sagt: Gut, dann nehm mas mal auf'd Speisekartn.” So wurde der Obatzde geboren, 1916 in Freising, mitten im ersten Weltkrieg. Oma weiß das von ihrem Vater. Er kam im Bräustüberl zur Welt und kennt die Geschichte von seiner Mutter, der Erfinderin höchstpersönlich. Unser Familienrezept für den Batz ist also das Originalrezept, meine Ur-Ur-Großmutter Magdalena Lechner der Geist dahinter. Für eine bayerische Familie wie meine könnte der Stolz nicht mal dann größer sein, wenn wir mit Sissi, Walter Röhrl und Sepp Maier auf einmal verwandt wären. Das Problem ist nur: Uns glaubt keiner.

Meine Oma ist 84. Sie geht eigentlich nicht mehr gern aus dem Haus. Aber heute hat sie sich mit mir zwei Stunden ins Auto gesetzt. Sie geht gestützt auf eine lila Krücke, aber sie hält selbstbewusst die frisch geföhnte Frisur in den Wind. Den Obatzdn, den sie gestern extra noch gemacht hat, hat sie im Auto gelassen. Eigentlich wollte sie ihn dem Wirt schenken, im letzten Moment hat sie es sich anders überlegt. „Nimm ihn du, ihr armen Studenten kriegts ja sonst nie was Gscheits zum Essen.“ Auf dem Weihenstephaner Klosterberg riecht es malzig. Hier, in diesem schlichten, weißen Haus, ist meine Ur-Ur-Großmutter gestorben. Hier soll er erfunden worden sein, der Obatzde.

„Ich habe ja gehört, dass Katharina Eisenreich den erfunden haben soll“, sagt der Wirt des Bräustüberls, Thierry Willems. Das hat leider jeder gehört, der Name meiner Ur-Ur-Oma, Magdalena Lechner, taucht nirgends auf. Willems betrachtet das Foto, das meine Oma ihm mitgebracht hat, ein brüchiges, sepiabraunes Bild von 35 Menschen in einem holzvertäfelten Raum. „Ja, das könnte hier im Bräustüberl sein, drüben, in dem anderen Raum. Der wurde aber renoviert“, sagt Willems. Er schiebt sich die Brille in die grauen Haare, die wie kurze Grashalme von seinem Kopf abstehen, und blickt meine Oma lächelnd an. „Fragen Sie mal in der Brauerei Weihenstephan, vielleicht haben die noch Dokumente oder Fotos. Wir haben hier leider gar nichts.“

Das Foto ist der einzige Anhaltspunkt, der die mündlich überlieferte Geschichte stützt. Die Männer und Frauen darauf scheinen sich für eine Feier herausgeputzt zu haben, sie halten allerhand Requisiten in die Kamera, Steinkrüge und Trinkhörner, eine Harmonika, eine Zither. In der Mitte sitzt breitbeinig der Wirt, die Jacke spannt über seinem Bauch, unter seinen Augen starrt ein Schnauzbart in die Kamera, der Bismarck neidisch gemacht hätte. Kann das Georg Lechner sein, der Großvater meiner Oma? Ist das die Belegschaft des Weihenstephaner Bräustüberl? Und ist vielleicht seine Frau Magdalena mit auf dem Bild?

Die Legende besagt, dass der Obatzde aus dem Bräustüberl kommt

Auch die Weihenstephaner Brauerei kann uns nicht helfen. „In unserem Archiv ist gerade alles in Kisten, wir sind umgezogen“, sagt die Pressereferentin. „Ich habe jetzt mal geschaut, aber zum Bräustüberl, oder zum Obatzdn, da gibt es nichts bei uns. Fragen sie doch den Wirt.“

Auf der Website des Bräustüberls steht Katharina Eisenreich als Urheberin des Rezepts, ab 1920 war sie Wirtin dort, und in dem Jahr soll sie ihn auch erfunden haben. Auch auf Wikipedia steht ihr Name, und in fast jedem anderen Zeitungsartikel oder Webeintrag, der sich mit der Geschichte des Obatzdn befasst. Sogar die EU zitiert den Namen Eisenreich in dem Amtsblatt, in dem die Aufnahme der „hochangesehenen Käsezubereitung“ als geschützte geografische Angabe begründet wird. Immerhin: Auch in dieser Legende heißt es, dass der Obatzde aus dem Bräustüberl in Freising kommt.

Einer meiner Onkel hat einmal versucht, den Wikipedia-Artikel zu „berichtigen“, leider ohne Erfolg: Der neue Absatz, ohne Quellenangabe, dazu noch von einem unbekannten Nutzer verfasst, war schon nach wenigen Stunden wieder verschwunden. „So ein Getue um an Camembert“, sagt meine Oma.

„Dass die Eisenreich den erfunden hat, das halte ich ja für extrem unwahrscheinlich“, sagt der Brauereiforscher Hermann Bienen.
Herzklopfen. Tief einatmen. Möglichst ungezwungen nachhaken.
„Tatsächlich? Warum denn?“
„Das Stüberl schreibt, dass das 1920 gewesen sein soll, da hat die ja als Wirtin gerade erst angefangen. Das dauert ja, bis so ein Laden läuft, die muss sich doch erst einfinden, und nicht in der Küche rumexperimentieren. Und man will doch erst recht nichts riskieren, in seinem ersten Jahr, in dem man den Gästen alten Käse vorsetzt... Nein, da übernimmt man doch erstmal das, was auf der Speisekarte steht.“

Wenn es das Bild vom typischen Brauereiforscher noch nicht gibt, dann sollte man es nach Hermann Bienen gestalten: Den Bierbauch versteckt er im Freisinger Stadtarchiv unter dem Tisch; auf die Nase hat er die Lesebrille gesteckt, so dass sich das Blut in der Nasenspitze staut. Früher war er selbst Brauer. Seit seiner Pensionierung kommt er regelmäßig ins Archiv und arbeitet sich durch alte Zeitungen, Melderegister und Grundbücher. Er will ein Buch schreiben über die Freisinger Brauereien, über 3000 Seiten hat er schon getippt. Er macht sich eine Kopie von dem Foto und referiert im Gegenzug über das Weihenstephaner Bräustüberl. Während er Namen und Geburtsdaten, Adressen und Pachtverhältnisse aufzählt, rutscht Oma drei mal die Krücke vom Tisch, wo sie sie angelehnt hat. „Ja, das stimmt“, sagt sie, als er von den Kindern des Wirtepaars spricht. „Katharina, ja, die Tante Kathi“, und: „Johann, das war mein Vater.“

So ein Gericht entsteht aus der Not heraus, wenn alles knapp ist

Georg Lechner war tatsächlich im Weihenstephaner Bräustüberl gemeldet, als Pächter und als Wirt, von 1911 bis 1920. Dann wurde Katharina Eisenreich Wirtin. „Nachdem die Magdalena gestorben ist, hat er’s nimmer lang weitergeführt“, sagt Oma über ihren Großvater. In einem verstaubten Band mit den erhaltenen Ausgaben des Freisinger Tagblatts von 1917 findet sie die Todesanzeige der Wirtin.

42 Jahre alt war Magdalena Lechner als sie starb, im Bräustüberl auf dem Klosterberg, in der Wirtswohnung. Deswegen ist Oma sich so sicher mit der Geburtsstunde des Obatzdn. Im Krieg muss es gewesen sein, so ein Gericht entsteht aus der Not heraus, wenn alles knapp ist. 1916 also, denn 1917 war Magdalena Lechner schon tot. „Sie hat ein Kind gekriegt, und ist dabei gestorben, und das Baby gleich dazu“, erzählt Oma. Ihr Vater Johann war da 19 Jahre alt und kam von der Front nach Hause. „Er war noch in Uniform, und er musste seine tote Mutter die Treppen 'nunter tragen, weil die zu schmal waren für den Sarg.“

Das Rezept für den Obatzdn kannte er da schon, und 30 Jahre später brachte er es seiner Tochter bei. Aber wie soll man das beweisen? Nach zwei Stunden im Stadtarchiv ist Oma müde, und wir machen uns auf den Heimweg. Ich könnte noch mehr Zeit mit den Heiratsannoncen von 1916 verbringen, mit der Werbung für Läusemittel, mit den Brauern, die Warnungen ausschreiben an die Flegel, die “dabei beobachtet wurden, wie sie Flaschen der Brauerei Hackl mit Wasser befüllt haben”. Aber die historische Bedeutung des Obatzdn war den Freisinger Journalisten wohl 1916 nicht bewusst. Die Mitarbeiter des Stadtarchivs freuen sich sehr über unser Interesse – dass wir einen Beleg finden, halten sie aber für unwahrscheinlich. Kein Mensch hätte Speisekarten damals aufgehoben, oder in den Zeitungen Werbung für Käsebrei gemacht. Wenn überhaupt, müsste das Bräustüberl selbst etwas haben. Aber da waren wir ja schon.

Einige Wochen später besuche ich den Freisinger Stammtisch. Jede Frage von mir wird mit einem „Des weiß der Sepp” an den Stammtischältesten weitergegeben, sein Sitznachbar übersetzt auf bairisch und ruft ihm laut ins Ohr. Der 90-Jährige macht beim Nachdenken die hellblauen Augen weit auf und bewegt langsam den Kopf von links nach rechts. Ob er als Kind Obatzdn gegessen habe. Ob er sich an die Wirte erinnere. Ob es noch Eisenreichs gebe in Freising. Kopfschütteln.
„Die Eisenreichs, die kenma nur vom hearn kenna”, erklärt ein anderer. „Sie hätten halt vor 20 Jahren schauen müssen, vo damals lebt ja heut keiner mehr.”
Ja, sage ich, aber da konnte ich noch so schlecht sprechen. Vor 20 Jahren war ich drei.


„Langt des net, des die Oma des sagt?”, sagt mein Vater. „Die Oma dat doch net lügen.” Aber wie soll man das den Wikipedia-Redakteuren erklären?

Es hilft nichts: Unsere Wahrheit lässt sich nicht beweisen. Oma schneidet Zwiebeln, zerdrückt Camembert, mischt Butter dazu, Salz, Pfeffer, Paprika. Die Oma kennt das Originalrezept, sagen meine Onkel. Mindestens 50 Prozent Käseanteil, sagt die EU. „Eigentlich is ja wurscht“, sagt meine Oma. „Der eine macht's aso, der andere machts anders. Jeder wia's eahm schmeckt.”


Erschienen in der Muh 23 (http://www.muh.by/ausgaben) und im Freisinger Tagblatt