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So werden Frauen belästigt, die auf Facebook ein Zimmer suchen

Sie zeigen sich im kurzen Top vor dem Spiegel oder am Strand liegend, machen Selfies mit Weichzeichner und beschreiben sich als "einfach handzuhaben", "immer gut gelaunt" und "sehr offen". Was nach perfekter Kontaktanzeige klingt, ist ein Zeichen purer Verzweiflung. Denn: Wir befinden uns nicht auf Tinder, sondern in Facebook-Gruppen wie "WG & Wohnung München gesucht". Das Ziel hinter diesen Gesuchen von meist sehr jungen, sehr hübschen Frauen: bezahlbaren Wohnraum finden. Eine schier unmögliche Mission.

Es ist kurz vor Semesterbeginn. Etwa 500.000 Menschen starten im Herbst 2019 in Deutschland ein Studium. Viele davon haben noch kein Dach über dem Kopf. Die Suche danach ist wohl anstrengender als eine Abi-Prüfung, zumindest in großen deutschen Uni-Städten wie München, Hamburg, Frankfurt und Berlin.


Deutschlandweit existiert eine "gravierende Unterversorgung mit bezahlbarem Wohnraum für Studierende", schreibt ein Sprecher des Deutschen Studentenwerks in einer E-Mail an VICE. Insgesamt gebe es ungefähr 245.000 Wohnheimplätze, das ist gerade mal genug für etwa 10 Prozent der Studierenden. Das Studentenwerk München verlost jedes Jahr zum Wintersemester 100 Wohnheimplätze. Zur Veranstaltung kommen regelmäßig mehr als 2.000 Leute. Wer dringend Wohnraum sucht, muss sich dafür vieles gefallen lassen. Die Plattformbetreiber von WG-Gesucht empfehlen Suchenden auf ihrer Homepage sogar explizit: seid offen.


Wir haben 30 Wohnungssuchende in zwei Facebook-Gruppen kontaktiert, die ein Gesuch mit Foto gepostet haben. Zehn haben geantwortet - und neun berichten gegenüber VICE, dass ihnen keine Zimmer angeboten wurden, sondern Dates. Sie sprechen auch von sexueller Belästigung und grenzverletzenden Bemerkungen.


"Komische Nachrichten von komischen Männern habe ich eine Menge bekommen", schreibt eine Nutzerin aus München, "glaube, das ist leider normal heutzutage." Auf ihrem Foto steht sie lachend auf einer Brücke, der Wind weht ihr durchs Haar, sie trägt ein bauchfreies Top. In einer Sprachnachricht erzählt sie, was die Männer ihr geschrieben haben. "Erzähl mir mal: Was sind deine Vorzüge, was hast du zu bieten?" Oder: "Du gibst mir Liebe, ich geb dir dafür ein Zimmer." Wenn sie nicht schnell geantwortet habe, hätten die Kontakte Dinge geschrieben wie: "Aha, doch kein Interesse." All das habe sie als sehr unangenehm empfunden. "Als wäre ich eine Prostituierte und sie könnten mich kaufen mit dem Zimmer, total strange."


Eine andere Münchnerin möchte nach ihren Erfahrungen sogar ganz auf die Wohnungssuche per Facebook verzichten. "Bei mir waren komische Männer dabei, die wollten, dass ich bei denen wohne. Sie haben gefragt, ob ich Single bin", schreibt sie. Eine Nutzerin aus Regensburg schreibt, Männer hätten ihr ein dubioses Zimmer angeboten - und zwar umsonst.


Eine Frau aus Litauen schreibt, ihr Gesuch auf Facebook habe ihr nicht das Geringste gebracht: "Außer blöde Nachrichten und komische Fragen von Männern habe ich nichts gekriegt."


Die Fotos der Frauen sind für Gruppenmitglieder offen zugänglich. Um Teil der Gruppe zu werden, muss man aber keine besonderen Voraussetzungen erfüllen. Die Fotos locken offensichtlich auch Leute an, die die Notlage der Suchenden ausnutzen wollen. Jede Menge Studierende kennen diese Storys. Ich habe selbst 2012 auf mein Inserat mit Foto bei WG-Gesucht Antworten bekommen wie: "Hey, ich hab zwar kein WG-Zimmer. Aber: Blas mir doch einen." Ich dachte, mittlerweile hätten Wohnungssuchende aus Berichten von anderen gelernt. Offenbar hat sich seit 2012 aber wenig geändert.


Übergriffige Nutzer zeigen ihr Verhalten nicht nur in privaten Nachrichten, sondern auch öffentlich in den Kommentarspalten unter den Gesuchen. Wer sie durchstöbert, sollte eine Kotztüte bereithalten: "Hey dumm fickt gut...", schreibt jemand unter das Gesuch einer Nutzerin, die sich mit Spiegel-Selfie als "alleinstehende, selbstständige junge Frau" vorstellt. In einer anderen Gruppe sucht eine junge Soldatin ein Zimmer für 400 Euro in Berlin, sie möchte eine Ausbildung zur Polizistin beginnen. "I don't have an apartment", schreibt ein Nutzer. "But i wish i have one so i could give it to. You worth it". Unter demselben Gesucht steht: "Hey, ich bin Single und suche ein gutes Mädchen."


Ein Nutzer macht sich in der Gruppe offen über die Wohnungssuchenden lustig und kostet so richtig Machtposition aus. "Ich bin hier nur aus Spaß, um zu sehen, wie Mädchen ihr Aussehen für ein gutes Angebot verkaufen", schreibt er auf Englisch. "Versteht mich nicht falsch, ich sehe gerne ein schönes Gesicht, aber come on, really? Die Schönste kriegt das Zimmer?"


Bei unserer Recherche ist uns besonders ein Facebook-Account mit dem Profilfoto eines älteren Herren aufgefallen. Der Account hat fast jedes der jüngsten Gesuche kommentiert. In seiner Freundesliste sind vorwiegend Accounts mit den Profilbildern junger Frauen, viele tragen nur BH oder knappe Oberteile. Wir fragen ihn, wie viel Erfolg er mit seiner Suche nach einer Mitbewohnerin bisher hatte. Er antwortet: Bisher keinen.


Facebook ist offenkundig zu einer riesigen Mieterbörse geworden. Carsten Wagner vom Portal WG-Suche sieht darin ein Problem: "Die Leute haben Scheuklappen auf", sagt er gegenüber VICE. "Sie denken, Facebook ist sicher." Dabei könne sich dort jeder ein Profil anlegen und muss nicht mal die Wahrheit sagen. Bei WG-Suche können Nutzer unseriöse Nutzer melden und das Team kümmert sich um Löschung, heißt es auf der Website des Portals. Dort warnen die Betreiber auch vor typischen Betrugsmaschen.


"Betrug ist in der Immobilienbranche gang und gäbe", sagt Wagner. "Zum Beispiel, dass jemand schreibt: Hey, ich hab ne tolle Wohnung, bin aber gerade auf Reisen. Schick mir einfach schon mal die Kaution von 1.000 Euro." Einige Leute würden Wagner zufolge aus purer Verzweiflung darauf eingehen. Weitere moderierte Portale, um Wohnungen zu finden, sind zum Beispiel wohngemeinschaft.de, studenten-wg.de oder wg-gesucht.de.


Auch viele Facebook-Gruppen zur WG-Suche werden mittlerweile professionell betrieben. Hinter einigen steckt das Unternehmen Alpaca. Alpaca betreibt der eigenen Website zufolge Hunderte Facebook-Gruppen in 13 Ländern, darin seien insgesamt über drei Millionen Mitglieder. Innerhalb weniger Minuten hat VICE in Facebook-Gruppen von Alpaca mindestens fünf Fälle von übergriffigem Verhalten gegenüber Nutzerinnen gefunden, zum Beispiel Kommentare wie: "Haha, sehr sympathisch, hätte ich einen Platz, hättest du ihn bekommen". Wir haben die Firma in einer E-Mail gefragt, ob sie davon weiß und was sie gegen Belästigung tut. Wenn wir eine Antwort erhalten, werden wir den Artikel entsprechend aktualisieren.


Mindestens vier der zehn Frauen, mit denen wir gesprochen haben, konnten inzwischen eine Wohnung finden, zum Teil über Facebook. Es wäre schön, wenn so etwas auch möglich wäre, ohne sich auf einer Online-Börse zum Idioten zu machen.

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