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Baubeginn Notfallklinik: Kann Berlin Wuhan?

Albrecht Broemme war seit 84 Tagen im Ruhestand und plante bloß die Arbeit in seinem riesigen Garten, als die Gesundheitssenatorin ihn anrief und ihm mehr Menschenleben anvertraute, als er wohl je zuvor als Katastrophenmanager gerettet hat. Ob er sich vorstellen könne, fragte die Senatorin, ein Notfallkrankenhaus für Corona-Erkrankte zu bauen, innerhalb weniger Wochen?

Broemme ist ein fast zwei Meter großer studierter Elektrotechniker, der in Interviews sagt, er könne nicht zählen, wie viele Tote er schon aus Autowracks, U-Bahn-Schächten und brennenden Häusern geholt habe. 14 Jahre lang war er Chef der Berliner , zuletzt Präsident des Technischen Hilfswerks. Er schickte Leute ins zyklonverwüstete Myanmar und nach Japan ins Tsunamigebiet, er ließ Flüchtlingslager im Nordirak aufbauen und Überlebende aus Schuttbergen ziehen. Jetzt, am Ende seines Berufslebens, hängt es nicht zuletzt an ihm, wie viele der Berliner Corona-Kranken mit schweren Verläufen gerettet werden können.

Aus der Halle 26 des Messegeländes an der Jafféstraße, in der einst Start-up-CEOs Produkte präsentierten und thailändische Tänzerinnen für Südostasienreisen warben, soll er eine Art Behelfsklinik machen: 1.000 Betten insgesamt, davon die Hälfte im Gebäude mit 200 Zwei- bis Vierbettzimmern, die übrigen wohl außerhalb, irgendwo auf dem Messegelände. Die Klinik soll einige Beatmungsgeräte bekommen, zudem 600 bis 800 Ärzte und Pflegekräfte - zur Not, so hieß es, müsse man Schönheitschirurgen, Sportärztinnen, Ruheständler und Medizinstudierende anwerben. Das alles innerhalb weniger Wochen. In Berlin, wo der Flughafen BER nach 14 Jahren Bauzeit rostet. Wo es Jahre dauern kann, bis ein Umbau genehmigt wird. "Das ist keine Dorfklinik und kein Kreiskrankenhaus", sagt Broemme eine Woche nach dem Anruf der Gesundheitssenatorin. "Das ist mehr."

Man weiß, was passieren kann, wenn dieses Projekt nicht gelingt. Man kann sich die Statistiken im Internet ansehen. Kann nach Italien und Frankreich blicken, wo ältere Corona-Kranke nur noch Sterbehilfe bekommen, wenn es keinen Platz in der Intensivstation für sie gibt. Das Gesundheitssystem muss sich für eine Welle wappnen, von der niemand genau sagen kann, wann sie kommt oder wie hoch sie sich türmen wird. An vielen Orten Deutschlands plant man jetzt deshalb Teststationen und Behelfskliniken in Hotels, leerstehenden Gebäuden und Messehallen. Wenn Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci heute um 13.30 Uhr die Halle begeht und der Bau beginnt, dann setzt Berlin ein erstes Beispiel für viele Kommunen, wie so ein Projekt laufen kann. Die Frage, wie die Hauptstadt in der Krise mit der Bürokratie umgeht, könnte dabei über einige Menschenleben entscheiden.

Nach dem Anruf bezog Albrecht Broemme recht schnell ein Büro in der Berliner Gesundheitsverwaltung in Kreuzberg, rief zuständige Stellen an, Ämter, Behörden, erarbeitete einen Zeit- und Kostenplan: 50 bis 100 Millionen Euro solle alles kosten, 25 Millionen davon für Geräte, 75 Millionen für Innenausstattung, das wurde schnell bewilligt. Mit ihm im Team arbeiten ein Stabsoffizier der Bundeswehr, Senatsvertreter, Sanitätspersonal. Ob sie die Nächte durcharbeiten, wie viel Abstand sie voneinander halten ist nicht bekannt. Mit Presse sprechen sie kaum: keine Zeit.

Deshalb ist es auch nicht genau zu rekonstruieren, wer von allen Beteiligten als Erstes den etwas merkwürdigen Absatz 4 des Paragrafen 77 in der Berliner Bauordnung entdeckte, und wann. Um die Kraft des Paragrafen zu verstehen, muss man kurz nach Wuhan blicken, wo die Corona-Pandemie zuerst ausbrach, und wo autokratische Strukturen behördliches Handeln weniger stark beschränken.

In der Stadt Wuhan, China, zogen Arbeiter im Februar ein Notfallkrankenhaus in acht Tagen aus dem Boden, ein anderes in zehn. Am Nachmittag entschied die Bezirksregierung den Bau, am Abend rückten die Bulldozer an. Für eines stapelte man einfach 3.000 Fertigbauteil-Container übereinander. Tausende Schreiner, Klempner, Elektriker arbeiteten rund um die Uhr im Schichtsystem. Ein Arbeiter schlief laut chinesischem Staatsfernsehen angeblich nur zwei Stunden innerhalb von drei Tagen.


In Berlin, Deutschland, können bei Neubauten im Einzelfall 37 Behörden mitreden, Waldrecht, Naturschutz, Denkmalschutz, Grundwasser und Nachbarn müssen bedacht werden, Hallen wie die Messehalle 26 müssen bei Umbauten monatelange komplizierte Nutzungsänderungsverfahren durchlaufen und jedes einzelne Bauteil braucht eine behördliche Zulassung oder einen Verwendbarkeitsnachweis. Dafür muss es unter anderem in einem genormten Ofen nach genauen Vorschriften zwecks Bestimmung der Brennbarkeit befeuert werden. Der Planung folgen Zustimmungs-, beziehungsweise Genehmigungsverfahren, Bauzeit, Probebetrieb, Nutzungsfreigabe – das kann Jahre dauern. Bürokratie kann in Demokratien vielleicht Pfusch unwahrscheinlicher machen, womöglich auch Willkür und Korruption beschränken, doch bei der Bekämpfung von Pandemien hilft sie nur begrenzt.

"Baurecht ist hochkompliziert", sagt Christian Bönker, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht in Berlin, "und Krankenhäuser sind die Königsdisziplin".

Es gibt das Bundesbaurecht, das europäische Recht, das der Bund umsetzen muss, es gibt die Berliner Landesbauordnung, die Krankenhausaufsicht und das Landeskrankenhausgesetz. Dazwischen musste Albrecht Broemme einen Weg suchen.

Er fand Paragraf 77, Absatz 4 der Berliner Landesbauordnung.

Laut Baurechtsexperte Bönker ist dieser Passus primär für geheime militärische Einrichtungen erdacht worden, vielleicht noch für Gebäude der Bundespolizei. Er besagt aber auch, dass Anlagen, die "dem zivilen Bevölkerungsschutz dienen" kein richtiges Zustimmungs- oder Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen. Bönker glaubt, dass es das erste Mal sein könnte, dass der Paragraf für einen solchen Fall angewendet wird. Was Gefahr bedeutet, was Schutz der Bevölkerung, das definiert die Pandemie jetzt eben neu.

Projektleiter Broemme reichte einige Dokumente bei der Senatsverwaltung ein, darunter wohl Dokumente über den Brandschutz. Die musste die Dokumente nicht im Einzelnen prüfen, sondern nahm sie nur zur Kenntnis. Broemme sparte so Monate, vielleicht Jahre.

Der Absatz 4 des Paragrafen 77 der Berliner Landesbauordnung wurde zum Star. Andere Bundesländer, die ähnliche Projekte planen, riefen in Berlin an, fragten: Wie beschleunigt ihr so was? In vielen Landesbauordnungen findet sich jeweils ein ähnlicher Passus.

Auch die Krankenhausaufsicht hat inzwischen Wege gefunden, von bestimmten Erfordernissen abzusehen. Ohnehin soll Halle 26 kein richtiges Krankenhaus werden. Es wird keine Kantine geben, kein Schwesternzimmer und keine Wäscherei. Albrecht Broemme nennt das Vorhaben deshalb nur "Behandlungszentrum Jafféstraße". Die schwersten Fälle sollen zurück in normale Kliniken notverlegt werden.

In Wuhan begann der Krankenhausbau ein paar Stunden nach Verkündung durch die Politik. In Berlin immerhin zwei Wochen danach. Zwischen der Halle 26 und dem Rest der Messe müssen die Arbeiter jetzt erst einmal eine Mauer hochziehen. Hygienevorschriften sind nicht außer Kraft gesetzt. Sie müssen auch die Klimaanlage abtrennen, damit die Viren sich durch sie nicht ausbreiten. Abluft muss gefiltert werden. Der Bodenbelag muss wischdesinfizierbar sein und eventuell ganz neu verlegt werden. Experten der Berliner Vivantes-Kliniken werden beim Aufbau helfen. Broemme muss Fachpersonal werben, über hundert Menschen hätten sich schon beworben. Irgendwoher müssen mehr Schutzmasken, Beatmungsgeräte, Intensivbetten kommen, ohne dass all dies aus anderen Kliniken abgezogen wird. Irgendwann muss jemand für stabiles WLAN sorgen, damit Kranke mit ihren Verwandten facetimen können. Und eventuell muss demnächst noch ein Amtshilfeersuchen an die Bundeswehr gemailt werden, damit Soldaten helfen kommen können.

"Der Schwerpunkt", sagt ein Sprecher der Bundeswehr, "liegt jetzt aber nicht auf der Einhaltung von Formalien und schönem Briefpapier".


Update: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Klinik solle Beatmungsmasken und Sonden bekommen. Richtig ist jedoch, dass die Klinik einige Beatmungsgeräte bekommen soll. Die betreffende Stelle wurde deshalb überarbeitet.

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