Beilstein - Lautes Lachen ist lange Zeit verboten im Leben von Malina Blume (Name geändert). Insbesondere in der Küche, die als heilig gilt und in der sie an manchen Tagen bis in die Nacht hinein arbeitet. Erfreuen darf sie sich lediglich „am Herrn". Erwischt sie die Hausmutter dennoch beim Herumalbern, zieht das Strafen nach sich. Sie sei „so voller Großmannschaft", heißt es dann. Zu großkotzig, zu übermütig, zu fröhlich. Als Konsequenz muss Malina Blume Buße tun. Älteren die Füße waschen. Einen Kartoffelsack um ihre Schulter hängen. Sich vor anderen Hausgenossen erniedrigen.
Sieben Jahre lang war Malina Blume Mitglied der Deutschen Spätregen-Mission (DSM), einer evangelischen Freikirche, die in Beilstein von 1957 an ihren Deutschland- und Europasitz hatte – bis der eingetragene Verein Ende Februar Insolvenz anmeldete. Wie kam es zu der finanziellen Notlage und wie geht es für die Missionsbewohner nun weiter? Und wieso kehrten Blume und zahlreiche andere Menschen der Sekte den Rücken?
Die Vereinsvorstände der DSM gehen auf Anfragen unserer Zeitung
nicht ein. Gespräche mit dem Missionsbewohner Ewald Fahrner, Malina
Blume und anderen Aussteigern legen jedoch nahe: Der Zerfall der
Glaubensgemeinschaft begann schon viele Jahre vor der finanziellen
Notlage. Er hängt zusammen mit den Strukturen innerhalb der Freikirche –
und den traumatischen Erfahrungen, wie sie Blume, aber auch viele
andere Mitglieder der Gemeinschaft gemacht haben.
Drei Standorte in Deutschland
Die Spätregen-Mission wird
1927 in Südafrika als Reaktion auf die angebliche Verweltlichung der
Pfingstbewegung gegründet. In den 50er-Jahren kommt die Bewegung auch
nach Deutschland, wird dort zum eingetragenen Verein. Glaubenshäuser in
Beilstein und in Beihingen (Baden-Württemberg),
in Porta Westfalica (Nordrhein-Westfalen) und Thomasburg
(Niedersachsen) entstehen, weitere im europäischen Ausland. Die
Bezeichnung „evangelische Freikirche“ ist nicht geschützt. Die
Evangelische Landeskirche beobachtet solche Freikirchen jedoch genau.
Ihr zufolge zielt das Leben der DSM darauf ab, „sich von Sünde und
teuflischen Einflüssen, die in der Welt allgegenwärtig seien, zu
reinigen beziehungsweise sich von ihnen abzuwenden“. Die Bibel gelte in
der Gemeinde als „irrtumslose Autorität in allen Lebens- und
Moralfragen“.
Das Glaubenshaus Libanon, in Beilstein schlicht „Libanon“ genannt, besteht aus einem Dutzend Gebäude am südwestlichen Stadtrand Beilsteins im Kreis Heilbronn. Neben Wohnhäusern gibt es eine Kirche, ein Wirtschaftshaus mit Speisesaal und Küche, Werkstätten, eine Schneiderei und eine Gärtnerei.
Malina Blumes Eltern leben
getrennt. Sie wächst bei ihrer Mutter auf, begleitet ihren Vater aber
regelmäßig zu Gottesdiensten und mehrtägigen Konferenzen der
Spätregen-Mission. Der Vater gehört zu den leitenden Vereinsmitgliedern
der DSM, den sogenannten Werkern. Die Werker, so heißt es bei Spätregen,
erhalten ihre Weisungen direkt von Gott.
Zuflucht für ein Mobbing-Opfer
1976,
als Blume 17 Jahre alt ist, sagt ihr Vater: „Der Herr hat durch seinen
Propheten gesprochen. Die Welt geht unter, noch bevor du 18 wirst. Die
einzige Möglichkeit, dass deine Schwestern, deine Mutter und du in den
Himmel kommen, ist, dass du jetzt in das Haus des Herrn ziehst.“ Blume
möchte nicht, doch sie nimmt die vermeintliche Prophezeiung ernst. Ihre
Mutter weint, als sie ihren Entschluss verkündet. „Du weinst, Mama“,
denkt sie, „dabei rette ich dein Leben.“
Ewald Fahrner lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren im Glaubenshaus. Anders als Malina Blume, die mit der Glaubensgemeinschaft aufgewachsen ist, tritt Fahrner aus eigenem Antrieb in den Verein ein. Er sei, so Fahrners Blick heute, sein Leben lang stigmatisiert worden. Aufgewachsen in Baden wurde er wegen seines schwäbisch-protestantischen Vaters nach eigenen Aussagen bereits im Kindergarten und später in der Schule gemobbt. Als Jugendlicher starb Fahrner beinahe an einer Blinddarmentzündung – und entschied: Wenn ich das überlebe, werde ich Gott dienen. So stößt er zur Deutschen Spätregen-Mission. Im Libanon findet er als junger Mann ein neues Zuhause. Eine Gemeinschaft, die ihn „unterstützt und ermutigt“, wie Fahrner sagt. Fortan lebt er an einem Ort, wo er sein Leben Gott widmen kann.
Die meisten Missionsbewohner arbeiten auch in der Beilsteiner Siedlung. Blume wird von der sogenannten Hausmutter, einer Art Chefin, wöchentlich für einen Dienst eingeteilt. Sie muss putzen oder in der Großküche helfen. Fahrner, gelernte Polier, zieht als Baumeister mehrere Häuser für die Missionsbewohner hoch. Da es nicht darum gehen soll, „im irdischen Sinne reich zu werden“, wie ein Vorsitzender es einmal formuliert, bekommen die Mitglieder in den ersten Jahrzehnten keinen Lohn für ihre Arbeit. Mehrere hundert Vereinsmitglieder leben verstreut in Süddeutschland und kommen zu den sonntäglichen Gottesdiensten nach Libanon. Von dem Geld, das sie den Hausgenossen zustecken, müssen diese zehn Prozent, den „Zehnten“, an den Verein abgeben. Der Rest muss für Dinge wie Zahnpasta und Waschpulver reichen.
Fernsehen und Radio sind tabu
Die Tage auf dem Missionsgelände beginnen früh am Morgen mit einer Betstunde. Abends ist ebenfalls Betstunde, ansonsten wird – abgesehen von gelegentlichen Pausen – den ganzen Tag gearbeitet. Die sogenannten Hausgenossen leben abgeschirmt von Beilstein und dem Rest der Welt. Fernsehen und Radio sind tabu. Das einzige Buch, das die Bewohner lesen dürfen, ist die Bibel. Ihre vermeintlichen Sünden sollen sie regelmäßig bekennen – entweder vor einem Seelsorger oder vor der ganzen Gemeinde. In den Betstunden singt sich die Gemeinde regelmäßig in Trance und praktiziert dabei das Zungenreden, bei dem sie unartikulierte Laute brüllt und auf den Boden stampft, wie Malina Blume erzählt, „um den Teufel niederzutrampeln.“
Für Blume bricht 1976 mit dem Eintritt in die DSM eine schwere Zeit an. Das Missionsgelände in Beilstein verlässt die Jugendliche selten und nur mit der Erlaubnis der Hauseltern. Gelegentlich macht sie mit anderen sogenannten „Sussies“, unverheirateten Frauen, einen Ausflug nach Heilbronn oder Stuttgart. Bei Woolworth gibt es billige schwarze Strumpfhosen. Und die brauchen die Sussies, um sie unter die blauen, langärmligen Kleider zu ziehen – die obligatorische Tracht, genäht in der missionseigenen Schneiderei.
Ist die Hausleitung nicht zufrieden, gibt es eine Strafe. Sie brüllt die Mitglieder an – so erzählt es Malina Blume – und zwingt sie, einen Sack über die Kleidung zu ziehen, den die Mitglieder teilweise bis zu einer Woche lang tragen müssen. Wenn man sich „vor dem Herrn kleinmachen will“, kriecht man mit dem Sack wie ein Hund auf dem Boden, immer im Kreis. Blume selbst tut das häufig. Sie bittet Gott verzweifelt um Hilfe, weil sie oft nicht einmal Geld für Waschpulver hat: „Ich dachte damals, ich bringe ein großes Opfer, um meine Familie zu retten.“
Fahrner rebelliert
Auch
Fahrners Verhältnis zur DSM ist schwierig. Er ist zwar fromm, spricht
seine Meinung aber stets offen aus und macht sich damit auch in der
Glaubensgemeinschaft wiederholt zum Außenseiter. Als er in den
70er-Jahren in Südafrika ist, wo die Internationale Spätregen-Zentrale
ihren Sitz hat, kritisiert er die Apartheid. Auf dem Beilsteiner Gelände
wiederum positioniert er sich mit einer Flagge als Freund Israels. „Die
haben die bewährteste Demokratie“, sagt Fahrner. Demokratie will er
auch in der Deutschen Spätregen-Mission etablieren.
Eine
Haltung, die der Vereinsleitung offensichtlich missfällt. „Ich war zu
rebellisch“, sagt Fahrner heute. Die Sekte will ihn loswerden. 1995
drängt ihn die Missionsleitung dazu, die Beilsteiner Siedlung zu
verlassen. Wie in vielen anderen Fällen auch, begründet sie ihre
Entscheidung mit einer Prophezeiung. Doch Fahrner wehrt sich. Er zieht
vor Gericht und bekommt Recht. Durch eine prophetische Weissagung,
urteilen die Heilbronner Amtsrichter 1998, könne kein rechtswirksamer
Vereinsausschluss erfolgen. Fahrner bleibt Missionsmitglied und darf auf
dem Gelände wohnen bleiben.
Malina Blume indes beginnt zu zweifeln. Jahre sind vergangen – und die Welt nicht untergegangen. Blume trifft sich heimlich mit anderen Sussies, die ihre Zweifel teilen. Ihre Zusammenkünfte sind geprägt von Angst, denn enge Freundschaften sind nicht gerne gesehen im Libanon. Außerdem fürchten die jungen Frauen, dass ihre Treffen in einer der Betstunden durch eine göttliche Prophezeiung ans Licht kommen könnten. Irgendwann verlässt Blumes beste Freundin die Freikirche. Als Blume etwas später ein paar Tage Urlaub bei ihrer Mutter macht, tut sie es ihr gleich: Sie kehrt zwar zunächst nach Beilstein zurück – aber nur, um ihre Sachen zu holen.
Verheerende Forderungen
Von
2009 an befindet sich die Deutsche Spätregen-Mission in einer Krise.
Die ständige Drangsalierung und Überwachung durch die Machthabenden in
der Freikirche, wie von Blume geschildert, machen offenbar auch anderen
Mitgliedern zu schaffen. Sie werfen den Autoritäten geistlichen
Missbrauch durch Prophetien vor. Fälle sexuellen Missbrauchs und
systematischen Mobbings sowie finanzielle Ungereimtheiten werden
öffentlich. Zahlreiche Menschen verlassen die DSM.
Zwischen den Abtrünnigen und der Freikirche kommt es zu weiteren Streitigkeiten, die vor Gericht enden. Anlass sind die Rentenansprüche zahlreicher Aussteiger, für die die DSM nie in die Rentenkasse eingezahlt hat. Die Sozialgerichte in Heilbronn und Stuttgart verpflichteten die Sekte in zahlreichen Fällen zur Nachzahlung der Rentenbeiträge. Die Forderungen sind verheerend für die finanzielle Lage der Mission: Sie belaufen sich auf mehrere Millionen. Annette Kick, die Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Landeskirche, betont jedoch: „Nicht erst durch die Prozesse, sondern schon vorher durch Veruntreuung von Geld durch die ehemalige Leitung war die finanzielle Lage prekär.“
Schließlich
kommt es zu einer öffentlichen Schulderklärung der Leitung. Sie kündigt
an, die Gemeinde grundlegend zu reformieren. Magische Riten will sie
abschaffen, die Macht der Leiter einschränken, und das biblische
Evangelium vor die „Weisungen“ der Propheten stellen.
Die meisten sind im Rentenalter
Ende Februar dieses Jahres stellt die Deutsche Spätregen-Mission einen Insolvenzantrag. Von den einst mehr als 200 Bewohnern leben inzwischen nur noch etwa 100 in der Beilsteiner Siedlung, 70 davon sind im Rentenalter.
Einer von ihnen ist Ewald Fahrner. Jahre nach dem
Streit vor Gericht hat sich der Vereinsvorstand bei ihm für das Betragen
der Leitung entschuldigt. Fahrner hat die Entschuldigung angenommen.
Die Weltanschauungsbeauftragte Annette Kick kann nicht beurteilen, ob
die versprochenen Reformen umgesetzt wurden. Fahrner indes sagt, es habe
sich etwas geändert. So würden Prophezeiungen in Bezug auf einzelne
Personen nicht mehr ausgesprochen. Das am 1. Juni eröffnete
Insolvenzverfahren bereitet dem 78-Jährigen allerdings schlaflose
Nächte. „Ich habe mehrere Häuser hier eigenhändig gebaut – ohne Geld
dafür zu bekommen“, sagt er. „Und jetzt soll ich Miete zahlen?“
Anlass
zur Hoffnung für die Bewohner gibt die vorläufige Einschätzung des
Insolvenzverwalters Renald Metoja. Ihm zufolge besteht die Chance, dass
das vorhandene Vermögen der DSM die Nachforderungen abdeckt. Allein die
Immobilien in Beilstein dürften sich auf einen Wert von gut sieben
Millionen Euro belaufen, das Gesamtvermögen schätzt Metoja auf etwa acht
bis zehn Millionen Euro. Wie hoch die Forderungen insgesamt sind, ist
unklar. Manche Verfahren zwischen der Deutschen Rentenversicherung und
der Mission sind noch nicht abgeschlossen. „Das bewegt sich irgendwo
zwischen drei und zwanzig Millionen“, sagt Metoja.
Mitleid statt Wut
Malina Blume bekommt noch Jahre nach ihrem Ausstieg anonyme Anrufe. „Wir wissen, wo dein Sohn ist“, droht ihr beispielsweise jemand. Einmal, als sie in einem Schuhladen ist, tippt ihr ein fremder Mann auf die Schulter: „Und vergiss nie: Kein schlechtes Wort über den Herrn.“ Lange ist Blume wütend auf die Sekte – bis sie sich 2019 dazu durchringt, ihren dementen Vater zu besuchen, der nach wie vor in Beilstein lebt. Als sie sieht, wie die Hausgenossen inzwischen leben, kann sie es kaum fassen. „Alle haben Radio, manche Frauen tragen Hosen. Das hätte es früher nicht gegeben“, erzählt die mittlerweile 60-Jährige. „Als ich gesehen hab, was aus denen geworden ist, hat mich das erschreckt: Ein Haufen alter, kranker Leute.“ Ihre Wut ist einem anderen Gefühl gewichen: Mitleid.
Die Verbliebenen sollen auf dem Gelände wohnhaft bleiben. Dem Insolvenzverwalter zufolge ist angedacht, das Wesen der Glaubensgemeinschaft zu erhalten. Es gebe potenzielle Investoren, die das Anwesen kaufen und von den Missionsbewohnern eine kleine Miete erheben würden. Laut Fahrner überlegt man, einen neuen Verein zu gründen. Doch eines ist für den 78-Jährigen klar: „Wenn da wieder mit namentlichen Prophetien gearbeitet wird, mach ich nicht mit.“ Er, der Rebell, hat seinen Traum von einer demokratischen Glaubensgemeinschaft bis heute nicht aufgegeben.
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