Die wirtschaftliche Lage in Venezuela ist desolat. Der Lateinamerika-Experte Alejandro Márquez-Velázquez erklärt, wie das Land immer tiefer in die Krise gerutscht ist und wie ein Kehrtwende herbeigeführt werden kann
Dr. Alejandro Márquez-Velázquez ist
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lateinamerika-Institut der Freien
Universität Berlin. Er forscht zu Entwicklungsökonomie und Venezuela.
Capital: Herr Márquez-Velázquez, seit dem Machtantritt von Nicolas Maduro im Jahr 2013 ist die venezolanische Wirtschaftsleistung massiv geschrumpft – 2018 sogar um 18 Prozent. Inwieweit ist Maduros Politik verantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang des Landes?
ALEJANDRO MÁRQUEZ-VELÁZQUEZ: Hierzu gibt es zwei Meinungen. Die Maduro-Regierung selbst sieht das Ausland und den Privatsektor als Verursacher der Krise und insbesondere den Rückgang des Erdölpreises. Wenn aber tatsächlich nur der Erdölpreis das Problem wäre, dann müssten auch andere erdölexportierende Entwicklungsländer eine schlechte Wirtschaftsleistung aufweisen. Kritiker Maduros weisen deshalb auf die verfehlte Wirtschaftspolitik hin. So hat Maduro es beispielsweise verpasst, die niedrigen Benzinpreise in Venezuela an die sinkenden Erdölpreise anzupassen.
Der Grundstein für die starke Abhängigkeit vom Öl und die staatliche Regulierung wurde aber schon vor Maduros Machtantritt gelegt.
Genau, Venezuela ist schon seit den 1920er-Jahren sehr abhängig vom Erdölexport. Wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas hatte die Regierung zudem bis in die 1980er-Jahre großen Einfluss auf die Wirtschaft. In den 90ern gab es dann viele Privatisierungen, auch im Erdölsektor. 1998 kam Hugo Chavez an die Macht, er lehnte diese neoliberalen Reformen ab und in den 2000er-Jahren wurden viele Privatisierungen rückgängig gemacht. Im Ölsektor liegt die Macht seitdem wieder beim Staat, Privatinvestoren gibt es eigentlich nur aus verbündeten Ländern wie China oder Russland.
Welche Teile der Bevölkerung leiden denn besonders unter den Wirtschaftsproblemen im Land?
Maduros wichtigstes Sozialprogramm in Venezuela ist die monatliche Lieferung von Lebensmitteln, circa zehn Kilogramm pro Familie. Davon sind der Regierung zufolge zwischen sechs und zehn Millionen Venezolaner abhängig. Im Zuge der Krise leiden sie also besonders unter der Lebensmittelknappheit. Zudem kann man wahrscheinlich grundsätzlich sagen, dass rund die Hälfte der Venezolaner über ein sehr geringes Einkommen verfügen. Sie werden von der Krise hart getroffen.
Aktuell haben die USA neue Sanktionen gegen den staatlichen venezolanischen Ölkonzern PDVSA verhängt und dessen Auslandsvermögen eingefroren. Welche Auswirkungen wird das auf den Machtkampf zwischen Maduro und seinem Kontrahent Juan Guaidó haben?
Die Sanktionen sind schon ein großer Schock für die Maduro-Regierung, immerhin gehen rund 40 Prozent der Erdölexporte in die USA. Gleichzeitig kann Guaidó aber auch erst auf die Konten zugreifen, wenn Maduro die Macht abgibt. Außerdem fehlt Guaidó immer noch die Unterstützung des Militärs. Insofern sehe ich nicht, dass Maduro allein aufgrund der Sanktionen abtreten wird.
Bereits in der Vergangenheit wurden zahlreiche Sanktionen gegen Venezuela verhängt. Welche Rolle haben sie für den Niedergang der venezolanischen Wirtschaft gespielt?
Die venezolanische Wirtschaft fing 2014 an zu schrumpfen, damals um fünf Prozent. Bis 2017 waren aber alle gegen Venezuela verhängten Sanktionen personenbezogen. Meiner Meinung nach ist es schwer zu begründen, warum diese personenbezogenen Sanktionen ausschlaggebend für das Schrumpfen der Wirtschaft 2015 und 2016 gewesen sein sollen. Seit Ende 2017 gibt es allerdings eine andere Art von Sanktionen. Sie verbieten dem US-Finanzsektor neue Schulden von Venezuela beziehungsweise der PDVSA zu emittieren. Seit genau diesem Zeitpunkt hat sich die hohe Inflation des Landes zu einer Hyperinflation entwickelt. Daher denke ich schon, dass diese Sanktionen mehr Einfluss auf die negativen Wachstumsraten von 2017 und 2018 gehabt haben.
Mit welchen Ländern kann Venezuela trotz Sanktionen noch Handel betreiben?
Die aktuellen Sanktionen gehen von den USA aus und richten sich gegen PDVSA. Das heißt, dass Venezuela immer noch finanzielle und kommerzielle Beziehungen mit EU-Ländern unterhalten kann, mit anderen Ländern Lateinamerikas und vor allem natürlich mit China und Russland. China bezieht ungefähr 20 bis 30 Prozent der Erdölexporte Venezuelas. Maduro wird jetzt wahrscheinlich versuchen, noch mehr Erdöl nach China zu verkaufen.
Präsident Maduro hat zur Bekämpfung der Inflation im August vergangenen Jahres die Währung umbenannt und fünf Nullen gestrichen. Hat diese Maßnahme irgendeine Wirkung gezeigt?
Leider nicht. Als es die neue Währung mit fünf Nullen weniger gab, lag der neue Wechselkurs bei 60 Bolivar Soberano zu 1 US-Dollar. Erst kürzlich habe ich auf der Website der venezolanischen Zentralbank den neuen Wechselkurs gesehen: 3600 Bolivar Soberanos zu 1 US-Dollar. Allein daran kann man erkennen, dass die Währungsumstellung keinerlei Einfluss auf die Inflation hatte.
Wie wäre es möglich, die wirtschaftliche Misere mit einer anderen Wirtschaftspolitik in den Griff zu bekommen? Schließlich ist Venezuela ein Land mit großem Rohstoffreichtum.
Ich denke, dass mehrere politische Maßnahmen nötig wären, um wieder Stabilität in die Wirtschaft bringen. Einerseits müsste es Investitionen in den Erdölsektor geben, um die Produktion zu steigern. Dann muss die Hyperinflation bekämpft werden. Mit Blick auf die Schulden des Landes sollte erst einmal eine Umstrukturierung der Schulden in Zusammenarbeit mit den Gläubigern vereinbart und der aufgeblähte Staat verkleinert werden. Zusätzlich wäre eine Steuerreform gut. Und die verschiedenen Wechselkurssysteme, die aktuell existieren, sollten geeint werden.
Die Staatseinnahmen Venezuelas basieren zu 95 Prozent auf dem Ölexport. Welche Maßnahmen müsste eine neue Regierung ergreifen, um diese Abhängigkeit zu reduzieren und andere Wirtschaftssektoren zu stärken?
Venezuela gilt als Paradebeispiel der sogenannten Ressourcenfluch-Theorie, der zufolge Entwicklungsländer, die sehr reich an Erdöl sind, normalerweise keine Demokratien und relativ arm im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern sind. Um das zu überwinden, muss Venezuela in politischer Hinsicht natürlich eine Demokratie bleiben. Zudem sollte die Regierung einerseits sparen und andererseits in Infrastrukturen investieren, die andere Exportsektoren fördern. So könnte Venezuela beispielsweise wie seine Nachbarländer Kaffee exportieren oder die Tourismusbranche und IT-Branche ausbauen.
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