CAPITAL: Herr Gabriel, Sie forschen zum menschlichen Denken. Stimmt es, dass wir Menschen uns durch die Digitalisierung immer schlechter konzentrieren können?
MARKUS GABRIEL: Nein. Digitalisierung bedeutet, dass neue mediale Formate der Informationsteilung und – vermittlung zustande kommen. Traditionell ist jede Informationsübertragung eine Reduktion von Komplexität. Das heißt, die Wirklichkeit ist immer komplexer als alles, was wir über sie sagen können. Nun ist es so, dass in unserer digitalisierten Umgebung manches schlichtweg schneller geht. Man kann Texte schneller einsehen, schneller scannen. Das bedeutet auch, dass man manches zu schnell liest. Unsere Lese- und Schreibkultur ändert sich. Wir können uns also nicht schlechter konzentrieren, sondern wir können an einem einzigen Arbeitstag sehr viel mehr produzieren. Jede Form von Arbeit, an der Informationen beteiligt sind – wozu auch das Verfassen von Büchern und das Betreiben von Wissenschaft gehört – ist schlichtweg einfach nur schneller geworden, sodass wir sehr viel mehr leisten und das kommt uns als eine Zerstörung unserer Aufmerksamkeit vor.
Das heißt, wir schaffen es durch die Digitalisierung mehr Leistung zu bringen?
Also was passiert ist, dass wir sehr viel intelligenter werden. Intelligenz ist das Maß relativ zu einem bestimmten Zeitraum ein Problem zu lösen. Jemand, der eine Espressomaschine verwendet, löst das Problem, möglichst schnell Kaffein zu sich zu nehmen, intelligenter, als jemand der sehr langsam Kaffee kocht. Natürlich kann der sehr langsam gekochte Kaffee besser schmecken und wenn man das Ziel hat, den besser schmeckenden Kaffee zu produzieren, kann das immer noch die bessere Lösung sein. Wenn es aber darum geht, möglichst schnell Kaffein zu konsumieren, dann ist die moderne Nespressomaschine das, was uns buchstäblich intelligenter macht. Ebenso ist es intelligenter mit einem Laptop ein Buch zu schreiben, als mit einer Schreibmaschine. Nach diesem Maß werden wir durch die Digitalisierung also sehr viel schneller sehr viel intelligenter.
„Wir sind heute zum Wissen besser geeignet als früher“
Markus Gabriel
Verändert sich dadurch auch unsere Art zu denken?
Ja, uns steht sehr viel mehr Wissen zur Verfügung und damit ändert sich insofern unsere Art zu denken, als wir sehr viel mehr Arten zu denken kennen. Jeder kann mit seinem Smartphone sehr schnell zumindest einen gewissen grundlegenden Informationsstand in höherer Mathematik abrufen, auch ohne irgendeinen Beweis zu verstehen und unabhängig davon, ob ihn das interessiert oder nicht. Wir sind heute systemisch privilegierter als früher, also zum Wissen besser geeignet.
Welche Auswirkungen hat das auf unsere Gesellschaft?
Die Wissensexplosion, die die Digitalisierung mit sich bringt, hat zur Folge, dass Ungleichheiten und Machtverhältnisse sehr viel schwerer verschleiert werden können. Denn es ist ja völlig klar – dass ist gar nicht kritisch gemeint – dass jeder von uns, der eine bestimmte Position innehat, sei es ein einfacher Job, nicht möchte, dass jemand anderes diesen Job hat. Schließlich wollen wir ihn ja haben. Wir brauchen also eine Abfederung des Wettbewerbs, Sozialstaat heißt das bei uns, und diese Abfederung gelingt nur dadurch, dass wir auch gewisse Vorteile und Pfade verschleiern und nicht allen öffnen. Die Digitalisierung ändert diese alten Verteilungswege, weil es nun für alle viel leichter ist an Informationen wie zum Beispiel Jobausschreibungen zu kommen. Es ist ja heute viel leichter als vor 30 Jahren herauszufinden, wo beispielsweise eine bestimmte Stelle frei wird oder wie viel ein Unternehmen wert ist. Und dadurch, dass nun alle mehr wissen, ändert sich unsere Ökonomie radikal. Es gibt jetzt neue Systeme der Verschleierung von Machtverhältnissen.
Müssen wir als Gesellschaft mehr über die Auswirkungen der Digitalisierung reflektieren? Warum tun wir das nicht?
Wir müssen in der Tat sehr viel mehr darüber nachdenken, was die Digitalisierung mit uns macht und zwar auf die richtige Weise. Also nicht pessimistisch nach dem Motto, da ist eine neue gefährliche Technologie, sondern auch optimistisch. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, wir können jetzt noch mehr wissen und entsprechend müssen wir die Digitalisierung dazu nutzen, mündigere Bürgerinnen und Bürger für die Reproduktion des demokratischen Rechtsstaates zu produzieren. Wir müssen die Digitalisierung aktiv dem demokratischen Rechtsstaat unterwerfen, denn der ist ja per Definition unseres Grundgesetzes der einzige legitime Inhaber der Gewaltausübung. Dieses legitime Monopol der Gewaltausübung ist heute dadurch gefährdet, dass es globale Informationsstrukturen gibt, die den demokratischen Rechtsstaat gefährden.
„Es ist eine naive Vorstellung, dass die Wissenschaft automatisch zur Verbesserung der Lebensumstände führt“
Markus Gabriel
Sie glauben, dass die Digitalisierung eine Gefahr für unsere demokratische Grundordnung ist?
Ganz genau. Die größte Gefahr seit dem Radio. Man darf nicht unterschätzen, dass wir eine nationalsozialistische Diktatur auf deutschem Boden ohne das Radio nicht gehabt hätten. Die Stimme Hitlers wurde damals ja auf eine ganz neue Art und Weise verbreitet. Erst später kam das neue Massenmedium Fernsehen. Das wurde in Deutschland dann wiederum sehr schnell öffentlich-rechtlich eingesetzt –zur Verbreitung des demokratischen Rechtsstaates und auch zur Verbreitung von Horrorbildern des Geschehens oder für Dokumentarfilme über Diktatur, um zu zeigen, was man alles nicht will.
Und heute?
Heute haben wir eine neue Welle, also ein neues Medium und dieses Medium ist von sich her nicht dem demokratischen Rechtsstaat und seinen Ideen unterworfen, sondern international aufgestellt. Ursprünglich dachte man – das war die Hoffnung des arabischen Frühlings – das jetzt einfach ein neues Medium automatisch wieder zur Demokratisierung führt. Diese Idee ist mit dem arabischen Frühling allerdings gestorben. Danach kamen die ganzen Wellen der anti-demokratischen Umstrukturierung, die wir jetzt immer noch erleben. Sie sind die Folgen einer naiven Vorstellung davon, dass Wissenschaft automatisch zur Verbesserung der Lebensumstände der Menschen führt. Man muss aber das Wissen auf eine richtige Weise verbreiten.
Das heißt, die Digitalisierung kann sowohl positiv als auch negativ genutzt werden.
Genau, das Medium ist neutral. Es wurde ursprünglich nicht mit einem bestimmten Ziel hergestellt. Anders als das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das unter staatlicher Kontrolle mit einem bestimmten Ziel hergestellt wurde. Deswegen war es nicht neutral. Und jetzt haben wir ein Medium, das von sich her erst einmal neutral ist und das gerade wild in jede Richtung ausschlägt. Natürlich haben wir Akte der Emanzipation wie beispielsweise #Metoo, wir haben aber gleichzeitig auch grundlose Verurteilungen von Personen, die unter Verdacht geraten sind. Aber dennoch ist #Metoo, klar, wie manches andere, ein Vorteil. Aber wir hätten weder einen Brexit noch einen Donald Trump, noch den endgültigen Zusammenbruch des Nahen Ostens erlebt, gäbe es kein Internet. Und im übrigens hätten wir keine chinesische Cyber-Diktatur. Die Gesamtbilanz ist also sehr schlecht.
Was sollte ihrer Meinung nach dagegen getan werden?
Also für mich ist angesichts der Digitalisierung und insgesamt die größte Herausforderung, wie es gelingt, das Gesellschaftsmodell des demokratischen Rechtsstaats mit seinem Anspruch auf die Herstellung sozioökonomischer Gleichheit weit über nationalstaatliche Grenzen hinaus nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern faktisch zu verbreiten. Also wie schaffen wir es, das wieder als weltweit wünschenswerte Zielvorstellung auf den Markt der Ideen zu bringen? Das ist derzeit nicht so, sonst gäbe es keinen Donald Trump oder Erdogan. Die Liste derjenigen Personen, die nicht damit hausieren gehen, dass sie Gleichheit herstellen, sondern die umgekehrt eine Lanze für die Ungleichheit brechen, ist ja leider sehr lang. Das ist eine neue Situation und wenn wir wieder etwas anbieten wollen, als Bundesrepublik oder als Europäische Union, dann müssen wir attraktiver sein. Kurzum: Wir brauchen für die globalisierte Welt ein Demokratiemarketing. Eine globale Erfolgsgeschichte des demokratischen Rechtsstaates, die glaubwürdig ist. Wenn wir das nicht haben, verlieren wir, dann gewinnen die Anderen.
„Wir brauchen einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“
Markus Gabriel
Und wie kann die Digitalisierung bei diesem Demokratiemarketing helfen?
Indem diejenigen Personen, die imstande sind die Werte des demokratischen Rechtsstaates gegen Kritiker zu verteidigen, das auch tun. Das heißt die Akteure der Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Medien müssen im Dienste der Aufklärung zusammen an diesem Ziel arbeiten. Das tun sie derzeit nicht, weil die meisten durch ökonomischen Druck im Grunde genommen schon aufgegeben haben. Wir brauchen einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, um einen Buchtitel von Jürgen Habermas zu zitieren. Und wir brauchen einen wirklich positiven aufklärerischen Gebrauch des Internets und nicht bloß die wilden Akteure, die da Meinungen äußern. Das ist zwar auch nicht undemokratisch, aber die unkontrollierte Flut der Meinungen schon.
Kommen wir vom Menschen zu den Maschinen und einer Frage, mit der Sie sich auch in ihrem neuesten Buch beschäftigen: Können Computer denken?
Da sage ich klarerweise nein, können sie nicht. Nichts kann denken, was nicht die geeignete evolutionäre biologische Vorgeschichte hat. Nach heutigem Stand der Technologie haben wir ja keine Biocomputer, wir haben nicht mal Quantencomputer. Unsere Computer bestehen nicht aus Neuronen, sondern die Hardware von Computern ist schlichtweg unvereinbar damit, dass da irgendwelche Denkvorgänge sind. Computer scheinen uns nur intelligent zu sein, weil sie in menschlichen Verwendungszusammenhängen vorkommen. Wenn ich zum Beispiel mit einem Computerprogramm Schach spiele, dann spielt nicht das Computerprogramm Schach, sondern es durchläuft bestimmte Prozesse, die algorithmisch gesteuert sind, die aber ganz und gar nichts mit dem zu tun haben wie das menschliche Denken funktioniert. Menschen denken überhaupt nicht so wie Computer.
„Unsere Computer und Server sind keine Lebewesen“
Markus Gabriel
Was ist der Unterschied?
Ein Unterschied ist zum Beispiel, dass das menschliche Denken kreativ und intuitiv ist. Immer erst dann, wenn wir einen Gedanken verstanden haben, können wir ihn in eine algorithmische Form gießen. Also man lernt erst einen Pfannkuchen zu backen und dann schreibt man ein Rezept. Umgekehrt sind Computer aber so gepolt, dass erst das Rezept und dann das Ergebnis kommt. Das ist also umgekehrt, das Computerdenken folgt Vorschriften. Vorschrift heißt auf altgriechisch Programm. Ein Programm ist die Ausführung einer Vorschrift. Programme können sich natürlich ändern und neue Programme schreiben. Wir können Programme in Programme einbetten, das heißt dann Deep Learning. Aber das ändert nichts daran, dass beim Computer das Rezept vor der Ausführung kommt.
Wenn Maschinen zwar nicht selber denken können, können sie das menschliche Denken trotzdem ergänzen? Wird es irgendwann zu einer Symbiose aus Mensch und Maschine kommen?
Ja, die gibt es schon immer. Wobei symbiotisch insofern nicht ganz präzise ist, als natürlich unsere Artefakte nicht selber leben. Symbiotisch heißt ja wörtlich, dass mehrere Lebewesen etwas zusammen tun. Unsere Artefakte, unsere Computer und Server, sind keine Lebewesen. Dennoch ist es so, dass die Mensch-Maschine-Interaktion den Menschen dauernd verändert, indem sie uns ganz neue Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Was Menschen heute tun können ist ja etwas ganz anderes als das, was Menschen vor der Digitalisierung tun konnten. Insofern verändern wir uns durch unseren Werkzeuggebrauch. Das kann man schon als hybride Situation bezeichnen.
Welche zukünftigen Szenarien wären wünschenswert?
Die Szenarien haben wir eigentlich schon alle. Aber wenn man beispielsweise an so etwas denkt wie fortgeschrittene Computer-Hirn-Schnittstellen, also Chips im Gehirn, die es gelähmten Personen erlauben durch Gedanken ihre Prothesen zu bewegen, sodass sie wieder gehen können, dann ist das noch ein weiter Weg. Das wäre natürlich wünschenswert, aber um das richtig machen zu können, müssen wir erst einmal herausfinden, was das neuronale Korrelat des Bewusstseins ist. Wenn man das irgendwie schaffen könnte, wäre das natürlich ein wünschenswerter Fortschritt des Menschen. Davon sind wir allerdings meines Wissens nach noch extrem weit entfernt.
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