Im großen Saal der Kölner Sparkasse werden Sekt und Fingerfood gereicht. Claus-Peter Reisch, eben noch auf der Bühne, ist nun von einer Menschentraube umgeben, jeder will mit „dem Kapitän" sprechen, ihm gratulieren: Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, die vor ein paar Jahren wegen ihrer flüchtlingsfreundlichen Politik Opfer eines Anschlags geworden ist, Norbert Blüm, CDU-Urgestein, der 2016 ein Flüchtlingslager im griechischen Idomeni besuchte, und der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sind da. Und solche, die sich in lokalen Vereinen engagieren. Für sie ist der Kapitän der Mission Lifeline einer, der sein Leben riskiert, um andere zu retten, der verhindert, dass Europa dem Humanismus den Rücken kehrt. Ein Held.
Fünf Tage bevor der Skipper im April dieses Jahres den Lew-Kopelew-Preis für Menschenrechte erhält, muss er sich als Krimineller verantworten. Er sitzt auf einer der Zuschauerbänke in einem dunklen, mit Holz vertäfelten Raum im Gericht von Valletta, Maltas Hauptstadt. Zu viele Menschen haben sich in den kleinen Gerichtssaal gedrängt, reden durcheinander. Der Richter versucht erst gar nicht für Ruhe zu sorgen, während er zuerst einen jungen Mann, der wegen Drogenhandel angeklagt ist, verhört - dann eine Frau wegen Diebstahl. Reisch starrt auf sein Handy, er wirkt unbeteiligt, stoisch. Als ginge es hier gar nicht um ihn. Er kennt die Abläufe, weiß, dass es noch dauern kann, bis er an der Reihe ist. Es ist das siebte Mal in neun Monaten, dass er nach Valletta geflogen ist, um vor Gericht auszusagen. Fünfmal hat das Gericht die Verhandlungen zum Teil erst während des Prozesses vertagt. Für Reisch eine Farce. „Der Prozess gegen mich ist ein Mittel zum Zweck, um das Schiff Lifeline am Auslaufen zu hindern. Aus diesem Grund hat auch die Anklagebehörde das Verfahren entsprechend lang hingezogen."
15 Monate liegt das Schiff nun im Hafen von Valletta. Reisch wird vorgeworfen, die Lifeline nicht ordnungsgemäß registriert zu haben. Es war das erste Schiff, das im vergangenen Sommer tagelang auf dem Mittelmeer ausharren musste, bevor sich Länder der EU auf eine Verteilung der geretteten Flüchtlinge einigten. Zuletzt konnte man das bei Carola Rackete, der Sea-Watch-Kapitänin, erleben. „Sie hat in der richtigen Situation das Richtige getan", erklärt Reisch, wenn man ihn heute nach Rackete fragt. Obwohl beide Ähnliches erlebt haben, trennen sie Welten.
Forderungen wie jene, alle Migranten direkt aus Libyen aufzunehmen, hält er für unrealistisch. Außerdem setze er sich lieber mit Politikern an einen Tisch, statt sie verbal anzugreifen. „Wir haben da doch sehr unterschiedliche Denkweisen." Als die Lifeline Ende Juni 2018 in den Hafen von Valletta einlaufen darf, wird das Schiff beschlagnahmt, er noch am selben Abend verhört.
Anfangs drohte ihm bis zu ein Jahr Gefängnis, später wird Reisch zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Mission Lifeline hat Berufung eingelegt.
Reisch polarisiert. Er wurde schon lange vor Carola Rackete zu einer Symbolfigur in der Auseinandersetzung um zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Wenn man ihn länger begleitet, merkt man: Claus-Peter Reisch ist nicht der typische Aktivist.
Wenn er auf Bühnen steht, dann meist in Anzug, zumindest im Hemd, mit aufgenähtem Lifeline-Logo. Der seriöse Auftritt sei ihm wichtig. Wo Reisch auch hinkommt, jeder scheint bereits eine Meinung von ihm zu haben. Selbst in seinem Heimatort, Landsberg am Lech, begegnen ihm Menschen, die ihn erst Helden und kurz darauf Oberschlepper nennen. Auch bei den eigenen Leuten, den Seenotrettern, ist der Bayer nicht unumstritten. Er hängt sich mit Forderungen lieber nicht zu weit aus dem Fenster, will sich mit keiner politischen Linie gemeinmachen, er nennt sich konservativ und schlägt manchmal einen rauen, befehlerischen Ton an.
Anfang Juni 2018, Mittelmeer. Es dämmert noch, als Reisch und seine Crew zwei Schlauchboote entdecken, die immer mehr Luft verlieren. Die Menschen sind gerade gerettet, da nähert sich ein weißes Patrouillenboot, bremst wenige Meter vor ihnen ab. Zwei Männer in hellblauen Hemden springen aufs Deck der Lifeline. Libyer. In den Gesichtern der 235 Flüchtlinge steht Angst. Reisch hat in seinem Leben schon viele Verhandlungen geführt. Keine hat einen so hohen Einsatz gefordert. Als Kapitän ist er für die Crew und die 235 Flüchtlinge, die er „Gäste" nennt, verantwortlich. „Ich bin in diesem Moment der Anwalt dieser Menschen."
Mit Handschlag begrüßt er den Kapitän der libyschen Küstenwache, der darauf beharrt, die Flüchtlinge an Bord seines Schiffes zu nehmen. Reisch verweist auf ein weiteres Schlauchboot, das noch immer da draußen sei, dann wird er ernst, sein Kopf läuft rot an, er kommt auf die Genfer Flüchtlingskonvention zu sprechen: Er könne die „Gäste" nicht übergeben, er würde sich strafbar machen. Die Männer ziehen irgendwann genervt ab. So beschreibt es Reisch in seinem gerade im Riva Verlag erschienenen Buch Das Meer der Tränen.
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