An einem Samstagabend ist Maike mit ihren Freundinnen unterwegs. In einem Restaurant sitzt jede von ihnen vor einem dampfenden Pastateller. Wo anderen Leuten das Wasser im Mund zusammenläuft, beginnt für Maike die Qual. Sie wird ihr Essen auf ihrem Teller hin und her schieben und versuchen, es so umzuschichten, dass es aussieht, als habe sie gegessen. Einmal geht sie mit vollem Mund zur Toilette und spuckt das noch unzerkaute Essen aus.
Ein Bissen weniger, den sie hinunterbringen muss. Maike ist gerade mal 13 Jahre alt, als ihre Welt beginnt, sich nur noch ums Essen zu drehen. Dann gerät sie in eine Abwärtsspirale.
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Die AbwärtsspiraleOberarzt Lorenz Hilwerling vom Universitätsklinikum Münster (UKM) muss einen besorgniserregenden Trend zu immer jüngeren Patienten mit Magersucht feststellen. Viele Mädchen wie Maike hat er hier schon erlebt. In der Spezialsprechstunde für Ess-Störungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie bilden inzwischen die 13- bis 15-jährigen Mädchen die größte Patientengruppe.
Die häufigste Erkrankung in dieser Altersgruppe ist die Anorexia nervosa, im Volksmund Magersucht genannt. Diese betrifft fast ausschließlich Mädchen. Was genau die Krankheit auslöst, lässt sich nicht auf eine Ursache reduzieren.
Unterschiedliche Wege„So individuell wie jede Lebensgeschichte sind auch die Entwicklung der Erkrankung und der Weg in die Anorexie", erklärt Kathrin Steinberg , Assistenzärztin und Begleiterin bei der Therapie.
Erste Symptome sind häufig ein schleichender Gewichtsverlust, der im späteren Verlauf der Krankheit auf mehrere Kilo in der Woche rapide zunimmt.
Eltern fällt das Ausmaß der Erkrankung ihrer Kinder typischerweise eher später auf, da es für sie schwer erkennbar ist, ob und seit wann ihr Kind an der Erkrankung leidet. Für viele beginnt das Ganze aber mit einer Diät oder mehr Sport, was schließlich in den Teufelskreis einer Ess-Störung mündet.
So auch bei Maike. Mit 13 macht sie ihre erste Diät. Das eigentlich schlanke Mädchen fühlt sich unwohl mit seinem pubertierenden Körper und versucht auch, den Leistungsdruck aus der Schule zu kanalisieren.
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Keine LösungAber nicht jede Diät bedeutet gleich den Anfang der Erkrankung. Gefährlich wird es erst, wenn die Betroffenen merken, dass ihnen das Fasten und die Askese mehr Sinn in ihrem Leben geben.
„Viele Patientinnen sehen dies als Leistung, die nur sie erbringen können und aufgrund derer sie sich von anderen unterscheiden", so Hilwerling. Spätestens, wenn die Jugendlichen von Zuhause ausziehen und eigentlich für sich selbst kochen müssen, begünstigt dies die Vermeidung der Nahrungsaufnahme. Maike wohnt während ihrer Magersucht zwar bei den Eltern, die sind aber beide berufstätig und sehen die Tochter nur abends.
Dass es den Patientinnen bei der Magersucht nur um ihr Aussehen gehe, halten Hilwerling und seine Kollegen inzwischen für ein Gerücht. Einige Patientinnen kompensieren ihren geringen Selbstwert mit der Magersucht, unterdrücken Ängste und Sorgen und nutzen das Abnehmen als eine vermeintlich gute Bewältigungsstrategie ihrer emotionalen Konflikte.
Ständiges FrierenMagersucht kann ohne eine entsprechende Behandlung schlimmstenfalls zum Tod führen. Das ständige Frieren, die Minderdurchblutung des Körpers und der Haarausfall sind nur der Anfang. Bei einem sehr radikalen Gewichtsverlust verändert sich sogar die Beschaffenheit des Skeletts. „Diese Patienten haben eine Knochendichte, die wir sonst nur bei älteren Menschen feststellen können", erklärt Hilwerling. Ähnlich wie bei Demenz-Patienten lassen sich auch Veränderungen am Gehirn erkennen. Es schrumpft regelrecht, da das Gehirn der letzte Fettspeicher ist, auf den der Körper bei extremer Mangelernährung zurückgreift.
Hinzu kommen Magen-Darm-Probleme, später Herzrhythmusstörungen und dann Nierenversagen. Jedes Organ des Körpers ist betroffen, da allen lebenswichtige Nährstoffe fehlen.
Mit 17 in die KlinikMaike wird in die Klinik eingeliefert, als sie siebzehn ist. Bei einer Körpergröße von 1,70 Meter wiegt sie nur noch 45 Kilogramm. Maike hat in ihrer Therapie gelernt, sich selbst anders wahrzunehmen, ihren Körper nicht als etwas zu betrachten, was es zu bekämpfen gilt. Sie wiegt ihr Essen nicht mehr, hat aufgehört, Kalorien zu zählen und sich selbst ständig auf die Waage zu stellen. Heute ist sie normalgewichtig und glücklich, wie sie selbst sagt.