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Hass - Antisemiten sind immer die anderen

Der Blick in die Vergangenheit versperrt manche Erkenntnis in der Gegenwart. Zum Leidwesen der Juden Foto: IPON/Imago

In Amsterdam wurde ein koscheres Restaurant angegriffen, der Täter trug eine Kufiya, rief „Allahu Akbar" und „Palästina". Im Keller der Göteborger Synagoge mussten sich Juden verstecken, weil draußen ein tobender Mob brennende Gegenstände warf. In Berlin verbrannten Demonstranten israelische Flaggen und forderten auf Arabisch den Tod der Juden, ebenso in Malmö, Wien und Paris. Europa im Jahr 2017.

Die antisemitischen Ausschreitungen infolge der Erklärung Trumps, die amerikanische Botschaft werde von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt, können nur überraschen, wenn man seit Jahren blinden Auges durch Europa gegangen ist. Jüdische Verbände und Zeitungen berichten schon lange von einer Zunahme antisemitischer Vorfälle. Doch den Blick versperrt ein falsches Verständnis des Problems. Viele verbinden mit Antisemitismus immer noch SS-Uniformen und prügelnde Glatzköpfe. Unterdessen erklärt ein Gericht einen Brandanschlag auf eine Synagoge im Jahr 2014 als nicht antisemitisch, da es sich um eine Reaktion auf die damalige Auseinandersetzung in Gaza handelte. Auch nach den Ausschreitungen in Berlin ließen die Relativierer nicht lange auf sich warten. Dass die Unterstellung, Araber und Muslime könnten auf jeglichen Vorgang in Israel und den palästinensischen Gebieten mit nichts anderem reagieren, als mit Wut und Hass, darüber hinaus entmündigend und latent rassistisch ist, sei an dieser Stelle dahingestellt.

Dabei ist es - um ein abgegriffenes, aber leider wahres Bild zu verwenden - längst 5 vor 12. Vielerorts in Europa fühlen sich Juden zunehmend bedroht. Sich offen mit Kippa zu zeigen, ist in manchen Stadtteilen und Vororten von Paris, im schwedischen Malmö oder auch in Berlin-Neukölln nicht mehr möglich. Doch dieser Antisemitismus hat eben ein neues Gesicht. Er ist oft migrantisch geprägt und über den Islam transportiert. Muslime weltweit fühlen sich - zumindest theoretisch, aber oft auch in der Realität - vermittels der „Umma" mit allen anderen Muslimen verbunden. Seit Jahrzehnten wird dies insbesondere von arabischen Staaten genutzt, um sich mit der palästinensischen Causa „solidarisch" zu erklären, das heißt, Hetze gegen Israel zu betreiben.

Deutsche Wahrnehmungsschwäche

Die Erkenntnis, dass es im migrantisch geprägten Milieu weit verbreiteten Judenhass gibt, als Rassismus abzutun, wäre unredliche Diffamierung. Doch von „importiertem Antisemitismus" zu sprechen, wie das nun Finanzstaatssekretär Jens Spahn auf Twitter tat, ist Augenwischerei und zudem eine bemerkenswerte Befreiung Deutschlands aus seiner Verantwortung. Denn er unterschlägt, dass diese Menschen oft in dritter Generation in Deutschland leben (von den jüngsten Neuankömmlingen abgesehen). Wenn antisemitische Einstellungen dort also verbreitet sind, dann auch, weil es die deutsche Gesellschaft versäumt hat, gegen diese vorzugehen. Was wiederum kein gutes Licht auf sie selbst wird. Auch Sigmar Gabriels Gerede davon, Konflikte aus anderen Weltregionen dürften nicht in Deutschland ausgetragen werden, zeugt von erschütternder Sachunkenntnis. Antisemitismus ist kein Konflikt, sondern Menschenhass. Es ist, als habe das Nach-Auschwitz-Deutschland nur darauf gewartet, endlich neue Antisemiten zu finden.

Doch die haben nach wie vor auch ein weißes Gesicht. Da gibt es die oben genannten Fälle der Relativierung und jene, die, wie die BDS-Bewegung, Aufrufe zum Judenboykott für legitime Kritik an der Politik Israels halten. Es gibt auch immer noch neonazistischen Antisemitismus, häufig in Form von Friedhofsschändungen, aber auch gewalttätig. Des Weiteren sind da die Linken und Querfrontler, die hinter jeder Ecke die Weltverschwörung wittern, vom Einfluss des jüdischen Geldes raunen - und für ihre kruden Theorien in den sozialen Netzen vermehrt Beifall ernten.

Das Land also, in dem eine große linke Partei nicht in der Lage ist, eine klare Abgrenzung von Antisemitismus vorzunehmen, in dem schon lange vor Ankunft der ersten Gastarbeiter antisemitische Einstellungen weit verbreitet waren, soll ein rein importiertes Problem mit ebenjenem haben? Wer das behauptet, forderte vor einigen Jahren (und teilweise heute noch) auch einen Schlussstrich unter Auschwitz. Aber den braucht es ja auch, will man Antisemitismus ausschließlich an Migranten festmachen.

Auf der einen Seite wird also behauptet, der Antisemitismus sei nur ein Problem Ewiggestriger oder er wird gänzlich historisiert. Auf der anderen wird er auf Muslime und Araber abgewälzt. Und in der Zwischenzeit müssen Juden in Europa sich zunehmend verstecken. Anders gesagt: Deutschland hat den Antisemitismus so effektiv bekämpft, dass es ihn nicht einmal erkennt, wenn er dabei ist, Synagogen anzuzünden. Eine massive jüdische Auswanderungswelle aus Frankreich nach Israel - immerhin ein Land mit extrem hohen Lebenshaltungskosten und umgeben von Feinden, die es vernichten wollen - sollte insofern eine Warnung nicht nur für Deutschland sein. Im April legte der vom Bundestag einberufene „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" nach zwei Jahren Arbeit seinen Bericht vor. Dieser forderte als Maßnahme unter anderem die Berufung eines Antisemitismusbeauftragten beim Bundeskanzleramt. Die Bundesregierung ließ den Bericht ungehört verhallen. Insofern ist es wohlfeil, wenn Angela Merkel und andere Kabinettsmitglieder nun im Nachhinein die Ausschreitungen von Berlin verurteilt.

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