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Flucht in die limitierte Freiheit

Marokko Gestrandete aus dem subsaharischen Afrika zwingen die Regierung zu einer neuen Einwanderungspoliti


Nachdem es Ende Februar hunderte Menschen in die spanische Exklave Ceuta geschafft hatten, veröffentlichte die Lokalzeitung El Faro de Ceuta ein Video des Freudentaumels. Einige der Migranten bedanken sich darin für die „Gastfreundschaft" Marokkos und bei dessen König Mohammed VI. Den Monarchen dürfte es freuen, bemüht er sich doch, sein Land als eines darzustellen, das sich der Einwanderer annimmt. Am 12. Dezember 2016 hatte er als Staatsoberhaupt verkündet, man starte unverzüglich eine „massive Regularisierungskampagne" für Migranten ohne Aufenthaltstitel. Das kam einigermaßen überraschend, weil bisher die im November 2013 aus der Taufe gehobene neue Einwanderungs- und Asylpolitik eher stagnierte.

Doch der Reihe nach: In puncto Migration war Marokko jahrzehntelang vor allem Auswanderungsland (über fünf Millionen Marokkaner leben in Europa), seit den 1990er Jahren wurde es mehr und mehr zur Transitschleuse für Migranten aus dem subsaharischen Afrika auf dem Weg nach Europa. Inzwischen verlagern sich die Migrationsbewegungen allerdings auf die gefährlichere libysche Route. Ungeachtet dessen stranden nach wie vor viele Westafrikaner in Marokko und bleiben dort, aus Entkräftung, Resignation oder in der Hoffnung, dort Zuflucht zu finden.

Seit Ende 2013 wird versucht, einer Bestimmung als Einwanderungsland gerecht zu werden. Schon damals ließ der König wissen, man werde eine umfassende Migrationspolitik in Gang bringen, orientiert an internationalen Standards. Die derzeit laufende Kampagne ist die zweite ihrer Art und wird - wie der Vorläufer von 2014 - gut ein Jahr dauern. Seinerzeit hielten sich offiziellen Angaben zufolge etwa 30.000 Menschen ohne Papiere in Marokko auf. Etwa 25.000 hatten am Ende der Kampagne einen Aufenthaltstitel. Auch die zweite Kampagne läuft mit Schwung an: Am 23. Januar meldete die zuständige Ad-hoc-Kommission, dass bereits 15.000 Anträge gestellt seien. Neben dieser Regularisierung gibt es noch eine zweite Möglichkeit, an Papiere zu kommen: Das Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Rabat startete 2014 in Kooperation mit den Behörden ein vorläufiges Asylverfahren. Es nahm Anträge entgegen, beantwortete sie und übermittelte sie an den Staat, dem es oblag, Papiere auszustellen. Dessen Institutionen sollten eingebunden und Verantwortlichkeiten übertragen werden.


Wütender Mob

Bestandteil der neuen Migrationspolitik sind Gesetzesvorhaben, die eine langfristige Integration ermöglichen. Bisher regelt das Gesetz 02-03 von 2003 die Einwanderungsmodalitäten, beschränkt sich jedoch auf repressive Maßnahmen, wie selbst das zuständige Ministerium 2014 erkannte. Allein, das Asyl- und das Einwanderungsgesetz sind bis heute nicht verabschiedet worden.

Das Ziel ist klar: Es soll einerseits ein Asylverfahren geben, das Flüchtlingen zu ihrem Recht verhilft und den Zugang zu den Programmen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ermöglicht; andererseits geht es um ein Einwanderungsgesetz, das den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Integration regelt.

Doch der Weg dahin ist steinig. Nicht die Gesetzgebung verzögert sich. Das UNHCR ist mit der Anzahl der Asylverfahren überfordert, wenn sich denen nur zehn Mitarbeiter widmen können. Die hatten zu Jahresbeginn die Anträge von 2.110 Asylbewerbern zu bearbeiten, beim UNHCR registriert sind 6.707 Menschen. Das bedeutet, viele warten monatelang auf einen Abschluss des Verfahrens.

Auch bei der Einwanderungspolitik hakt es: Die Kriterien für eine Regularisierung sind streng. Nur wer schon länger im Land ist oder Arbeit, Wohnung und/oder Partner hat, kann auf Papiere hoffen. Überdies gilt der Aufenthaltstitel zunächst nur für ein Jahr. Viele Arbeitgeber wollen keine undokumentierten Einwanderer beschäftigen, also gilt: Wer Arbeit will, braucht Papiere, und wer Papiere will, braucht Arbeit. Zudem regen sich rassistische Ressentiments gegenüber Afrikanern schwarzer Hautfarbe. Im Jahr 2014 ermordete ein wütender Mob einen Senegalesen, der in Boukhalef, im Armenviertel von Tanger, ein Refugium gesucht hatte.

„Marokkanische Migrationspolitik prägt ein fortbestehendes Paradox", sagt Elkbir Atouf, Migrationsexperte aus Agadir. „Einerseits befiehlt der König die Regularisierung, doch wird nach wie vor abgeschoben und vertrieben." Korrespondiere die Regularisierungskampagne nicht mit dem Respekt vor Menschenrechten, habe diese Politik keinen Sinn. Der Staat sollte deshalb Akteure aus der Zivilgesellschaft stärker einbinden.

Verschiedene Nichtregierungsorganisationen wie die Caritas versuchen, eine minimale Gesundheitsfürsorge für Migranten zu sichern. Auch bei der Justiz muss sich noch viel bewegen. „Es gibt viel zu wenig Juristen, die sich mit Ausländerrecht auskennen, was häufig an der Ausbildung liegt", so Elkbir Lemseguem, Anwalt aus Rabat. Das größte Hindernis für seine Arbeit sei neben der Sprachbarriere die prekäre Situation seiner Klienten. „Oft machen die Behörden schon beim Ausstellen einer Geburtsurkunde Probleme. Sie verlangen Gebühren und wissen genau - das ist illegal." Viele der Probleme ließen sich auf legislativer Ebene lösen. „Es gibt eine Menge Bestimmungen, zum Beispiel in der Strafprozessordnung, die präzisiert und aktualisiert werden müssen", meint Lemseguem. Viele Verfahren scheiterten oft schon an unzureichenden Übersetzungen. Doch er sieht auch Erfolge: So habe ein Gericht einen auf Grundlage des Gesetzes 02-03 verhafteten, aber beim UNHCR registrierten Flüchtling freigesprochen.


Kein Wundertäter

Obschon es also noch eine große Baustelle ist, muss man das Besondere an den marokkanischen Bemühungen unterstreichen: Kein anderes Land in Nordafrika kann Vergleichbares vorweisen. Natürlich entspringt die neue Politik nicht nur hehren Idealen. Sie passt in das Staats- und Selbstverständnis des Königs. Seit der 1999 die Nachfolge seines Vaters Hassan II. antrat, hat sich das Land stark verändert. Mit dem Arabischen Frühling 2011 wurde der Reformdruck merklich größer. Dem standzuhalten und dabei keine Macht abzugeben, das hat Priorität für die Monarchie. Dabei setzt Mohammed VI. vorrangig auf Qualitäten, die zu mehr Effizienz in der Verwaltung und einem größeren Respekt gegenüber internationalen Vereinbarungen führen. Ernsthafte Reformen in der Justiz und im Sozialsystem, verbunden mit ökonomischer Prosperität, sollen das Leben der Marokkaner verbessern, ohne das Land über Gebühr zu demokratisieren. Wenn dann hungernde und bettelnde Migranten auf der Straße stehen, passt das schlecht ins Bild.

Doch es geht nicht zuletzt um Außenpolitik. Die Botschaften afrikanischer Staaten in Rabat klagen, dass sie sich um die Angelegenheiten ihrer irregulär eingereisten Landsleute kümmern müssten, anstatt diplomatischen Tätigkeiten nachzugehen - da kommt ihnen Marokkos Regularisierung durchaus gelegen. Im Juli 2016 wandte sich der König mit dem Wunsch an die Afrikanische Union (AU), wieder in diesen Staatenbund aufgenommen zu werden, dessen Vorgänger, die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), man 1984 wegen des Konflikts um die Westsahara verlassen hatte. Am 30. Januar war es so weit: Per Mehrheitsbeschluss konnte die Rückkehr in eine panafrikanische Assoziation besiegelt werden. Auch in der EU stößt - in Zeiten der „Fluchtursachenbekämpfung" - Marokkos Wille zur Kooperation auf Widerhall. Institute der Entwicklungshilfe wie die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sind vor Ort in der Migrationspolitik engagiert. Bald soll auch das Rückführungsabkommen mit Berlin unterzeichnet werden. Es geht um die Abschiebung von etwa 3.000 Marokkanern, deren Asylgesuche in Deutschland abgelehnt wurden.

Es wirkt paradox: Ein Land, das bestenfalls limitierte politische Grundfreiheiten kennt und autokratisch regiert wird, in dem Homosexualität als kriminelles Delikt gilt und die Opposition zum Schweigen gebracht werden kann, tritt als humanitärer Helfer in Erscheinung. Die Lage vieler Migranten ist derart desolat, dass sie dies sehr zu schätzen wissen.


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