Der Startschuss zerreißt die Stille, gefolgt vom Aufheulen der Motoren. Dann biegen zwei reichlich klapprige Motorräder um die Kurve. In dichten Auspuffqualm gehüllt knattern sie fast gleichauf über die verschlungene Pyrenäenpiste. Am Rand der Landstraße stehen Tausende Menschen, die ihre Hälse und Köpfe recken und die beiden Fahrer lautstark anfeuern. Auf dem Kamm des Jaizkibel-Gebirgszugs hat man einen Logenplatz bei diesem Motorradrennen, das sie „Punk's Peak" nennen.
Motorräder? Das war doch dieses Hobby, bevorzugt betrieben von Besserverdienenden jenseits der Midlife-Crisis, die auf chromblitzenden Harley-Davidsons ihren nie ausgelebten Rockerträumen hinterherbrettern. Aber auf dem Festival „Wheels and Waves" hier im Baskenland, in der Grenzregion zwischen Südfrankreich und Nordspanien, tummelt sich eine ganz andere Biker- Szene. Wenig Zottelfrisuren, Fransenwesten oder Totenkopf-Tattoos, dafür aber jede Menge Mittzwanziger in flatternden Hawaiihemden, von denen einige gezwirbelte Schnäuzer tragen und andere mit Kapitänsmützen auftreten. Auffallend viele Frauen mit bunten Stirnbändern, in zerschlissenen Ringelhemden und Latzhosen, die sich auf dicken Maschinen unter großem Hallo durch die Menschentrauben quetschen.
Hier feiert sich eine neue Biker-Community - eine, deren Mitglieder sich nicht für die Power und Performance moderner Motorräder interessieren, sondern für barocke Bikes aus lange zurückliegenden Zeiten: goldene Sixties-Yamahas mit riesigen Frontscheinwerfern, Maschinen wie die Honda CX 500, in den Siebzigern gern als „Güllepumpe" geschmäht, dazwischen Triumphs und Moto Guzzis, die vor 30 Jahren vielleicht mal Avantgarde waren. Viele davon sind Klapperkisten mit stumpfem Lack, alte Mopeds, die qualmen, stinken, bollern. Vom Schrott-Bike zum Blickfang - so lautet die Devise, und der Fixpunkt dieser Szene ist dieses Festival, das jeden Juni am Plage de la Milady bei Biarritz stattfindet. 2017 kommen fast 20 000 Besucher an die Atlantikküste - aus ganz Europa, aus den USA und sogar aus Indonesien.
Auf dem Festivalgelände riecht es überall nach Benzin, Öl und verschmortem Gummi. Auf einer Wiese oberhalb des Strands reihen sich Dutzende alter Armeezelte aneinander, umgeben von einem mannshohen Bretterzaun. Hier präsentieren sich Motorradhersteller, die dem schrägen Biker-Trend vor Ort nachspüren wollen, Customizer stellen ihre eigenwilligen Kreationen vor, und im Motodrom riskieren Steilwandfahrer halsbrecherische Manöver. Nebenan rollen, sliden und springen Skater und BMX-Fahrer in einer großen hölzernen Halfpipe, beklatscht von jungen Frauen mit Petticoats und knallrot geschminkten Lippen. Während draußen auf den Atlantikwellen blonde Surferboys auf Longboards balancieren, wechseln sich Kid Congo Powers, Brian Bent und die Tomorrow Tulips auf der Bühne ab und liefern Surfrock, elektronischem Hall und einer Portion Melodienschmalz den Soundtrack zum Happening. Es sind Bilder wie aus dem legendären Surfer-Epos „The Endless Summer", kalifornisches Lebensgefühl anno '66.
Die Szene, die sich jeden Sommer in Biarritz trifft, ist so etwas wie die motorisierte Variante des herrschenden Retro-Trends. Tauchten vor einigen Jahren restaurierte Fahrräder in den Szenevierteln der Metropolen auf, sind die neuen Stilobjekte jetzt alte Motorräder, die man - viel Hingabe und ein wenig Geschick vorausgesetzt - selbst reparieren und aufmotzen kann. „Im Zeitalter von Smartphones und intelligenten Kühlschränken lernen viele Menschen das Analoge und Unzulängliche zu schätzen", sagt Sébastien Lorentz, Jahrgang 1975, stets mit Basecap und Kastenbrille. Seit sechs Jahren fertigt der Franzose in seiner Werkstatt „Lucky Cat Garage" in Chartres Motorräder nach Maß. Keine hochgezüchteten Hightech-Maschinen, die auf Knopfdruck losbrüllen, sondern Old-School-Bikes, die einen ordentlichen Tritt auf den Kickstarter brauchen und ihren Benzinhahn unter dem Tank verstecken, sodass man sich beim Öffnen die Finger verbiegen muss.
Als Teenager habe er eines Tages den Rennfahrer Eddie Lawson im Fernsehen gesehen, erinnert sich Lorentz, „von da an drehte sich bei mir alles nur noch um Motorradrennen". Er blätterte damals ein paar Hundert Francs für ein marodes Track Bike hin, für mehr reichte es nicht. Um das Motorrad wieder fahrbereit zu machen, brachte er sich selbst bei, wie man es bis zur letzten Schraube auseinandernimmt und wieder zusammensetzt. Er lernte, dass es mit einer flachen Sitzbank und versetzten Fußstützen in den Kurven besser zu kontrollieren ist. Als er sein erstes Custombike fertig hatte, war er gerade 18 Jahre alt.
Für Lorentz ist sein Hobby inzwischen zu einem florierenden Geschäft geworden. Schrauben, schweißen, shapen: Der Franzose macht immer noch fast alles allein. Für die Komponenten bedient er sich bei alten BMWs. Die sind robust und einfach konstruiert, anders als moderne Motorräder, die für Umbauten nicht recht taugen. Lorentz zerlegt die Maschinen, dann kombiniert er Motoren und Rahmen mit den Vergasern, Schutzblechen und Lenkern anderer Modelle. Eigenhändiges Werkeln gehört für ihn genauso zu dieser neuen Motorradkultur wie die Tatsache, dass die alten Mühlen auch mal streiken. „Ein gutes Bike ist nicht zwingend das schnellste", fasst Lorentz seine Haltung und Erfahrungen kurz zusammen, „aber es braucht Charakter, es muss eine Seele haben."
Was für die Maschinen gilt, das gilt natürlich auch für den modischen Auftritt, für die Klamotten zum Bike. Zu einer 40 Jahre alten, schon etwas verranzten Honda passt nun mal der Steve-McQueen-Style am besten. „Die Ästhetik ist vielen Custombikern wichtiger als die Technik", sagt Thomas Errera beim Gespräch in seinem Zelt. Errera, 34, Typ junger Antonio Banderas, stellte bis vor ein paar Jahren als Medizintechniker Knie- und Hüftprothesen her. Glücklich hat ihn dieser Job nicht gemacht - zu wenig Zeit für Träume. Also gründete er das Label Kytone für die etwas anderen Biker-Outfits. „Anfangs hatte ich von Stoffen, Schnitten und der Fabrikation nicht den geringsten Schimmer", erzählt er. Dafür wusste er genau, was er wollte: Jeans, T-Shirts, lässige Looks statt klobiger Lederkluft. „Ich will einfach nicht rumlaufen wie die Hells Angels oder wie diese Wochenendfahrer mit ihren Ganzkörperkombis aus Gore-Tex", sagt Errera. Stattdessen heizt er in erdfarbenen Longsleeves, Shorts und knielangen Tennissocken über den Asphalt: „Denn wenn du beim Fahren nicht die Vibrationen der Maschine, die Hitze des Motors spürst, ist es doch nur das halbe Erlebnis." So wie er denken offenbar viele, denn der Jungunternehmer ist erfolgreich und hat für sein Label mittlerweile Dutzende Vertriebspartner in ganz Europa gefunden.
Was die neue, extrem vielfältige Biker-Szene auszeichnet, so Errera, sind die Überschneidungen mit Surfern, Skatern, BMX-Fahrern und Hot-Rod-Fans: eine Synergie der Subkulturen. „Diese Verschmelzung hat eine wilde Kreativität freigesetzt", sagt er, während im Zelt gegenüber eine Künstlerin einen Helm andächtig mit Glitzerlack, Comicfiguren und Irokesenfransen dekoriert. Andere bekleben ihre Lenker mit grellen Neon-Tapes oder häkeln eifrig Tank-Überzüge. „Jeder kann hier sein persönliches Ding durchziehen, seinen Stil ausleben", sagt Errera.
Nicht nur erfreut, sondern fast überrollt wurden die Festivalgründer von ihrem Erfolg. „Wir ahnten ja damals nicht, was wir mal für einen Hype auslösen würden", sagt Vincent Prat, Mitte 50, immer mit Sonnenbrille. Eigentlich wollte Prat 2009 nur einen privaten Wochenendtrip von Toulouse in seine Heimat Biarritz unternehmen - Wellenreiten, Grillen, Musik, mehr nicht. Damals kam ein gutes Dutzend seiner Freunde mit auf Tour. Dann schlossen sich von Jahr zu Jahr mehr Leute an. 2012 waren es schließlich so viele, dass Prat und seine Mitstreiter Jérôme Allé und Julien Azé das Treffen als Veranstaltung anmelden mussten. Zu diesem ersten offiziellen „Wheels and Waves"- Festival kamen knapp 100 Leute. Ein Jahr später waren es 1000, zwei Jahre später schon 3000. „Es ist eine Art von Rebellion auf Rädern, und die trifft einen Nerv", sagt Prat. Als 16-Jähriger bretterte er mit seiner Yamaha noch querfeldein durch die Berge, doch das ist in Frankreich längst verboten. Das Festival versteht er als Statement für ein wenig Biker-Anarchie. Wenn er beim „Punk's Peak"-Sprintrennen mit einem Revolver den Startschuss gibt, wenn sich beim Rundrennen auf einer Sandpiste im spanischen San Sebastián Gelegenheitsfahrer und Profiracer messen, dann hat sich darin etwas von der ursprünglichen Wildheit des Motorradfahrens erhalten.
Grenzen überschreiten, neue Bewegung ins Biken bringen - das sind die Leitideen des Festivals. Stolz sind seine Macher auch darauf, dass immer mehr Frauen dazustoßen. So wie Irene Kotnik und Cäthe Pfläging aus Berlin. Kotnik, 35, blonde Mähne, beiger Overall, hat ihren Führerschein in den USA gemacht. Auf ihrer ersten Tour ist sie die komplette Route 66 gefahren, erzählt sie. Pfläging, 44, Spitzname „Racäthe", hat ihren Lappen schon das halbe Leben. Daheim, im Bergischen Land, fahre jeder in ihrer Familie Motorrad. Als kleines Mädchen hing sie immer am Fenster, wenn am Wochenende Tausende Biker die Kurve vor ihrem Elternhaus zur Rennstrecke machten.
Kotnik und Pfläging haben 2015 die „Curves" gegründet, einen reinen Frauen-Motorradclub. Der harte Kern ist mit nach Biarritz gekommen: Janna, die Journalistin, Freddy, die Ärztin, Silke, die Maschinenbauerin, und ein halbes Dutzend andere Frauen zwischen 20 und 50. Viele von ihnen haben ihren Motorrad-Führerschein gemacht, ohne groß darüber zu reden - sie hatten einfach keine Lust auf dumme Sprüche. Jetzt treffen sie sich zu Schrauberkursen, machen gemeinsame Touren durch die Alpen. Biarritz hat sie zu ihrem eigenen kleinen Festival inspiriert, dem „Petrolettes", das sie im Sommer im Berliner Umland veranstalten.
„Die Szene öffnet sich mehr und mehr, viele Klischees sind einfach passé", sagt auch Errera auf einer Spritztour in seinem Hot Rod von Ford aus dem Jahr 1938. Ob Harley oder Moped, ob Mann oder Frau, alt oder jung: Bei „Wheels and Waves" seien alle gleich, und jeder fühle sich frei. Manchmal, sagt Errera, schnappt er sich sein Surfbrett und kurvt einfach die Küste entlang, mit dem Wind in den Haaren und der Sonne im Gesicht, die Palmen und die Wellen immer im Blick - ohne Ziel, ohne Zwang. Da blitzt es schon noch auf, das „Born to be wild"-Feeling.
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