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ISuS-Schule: Hier bekommen junge Flüchtlinge eine Zukunftschance

Angst, Schrecken und Einsamkeit - das alles ist dem 21-jährigen Morteza nicht mehr anzusehen. Seit einem knappen Jahr lebt der gebürtige Afghane als Asylbewerber in Deutschland. Schon jetzt kann er sich auf Deutsch sehr gut verständigen.


Fast sechs Jahre war Morteza mit seiner Familie auf der Flucht, bloß weg aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. „Als er zu uns kam, konnte Morteza nur Dari, die neupersische Schriftsprache, und ein bisschen Englisch", erzählt Michael Stenger, der die Münchner Flüchtlingsschule ISuS (Integration durch Sofortbeschulung und Stabilisierung) im Jahr 2012 gegründet hat.


Finanziert wird das Projekt durch öffentliche Gelder, Stiftungsmittel und private Spenden. Etwa 160 junge Flüchtlinge haben er und seine Kollegen dort bisher ausgebildet. Auch der junge Afghane hat sich seither rasend schnell entwickelt: Nach einem Jahr ist mit ihm ein Gespräch auf Deutsch fast ohne Probleme möglich.


Viele landen zunächst auf dem Abstellgleis

Morteza ist nur einer von vielen Kriegsgetriebenen: Allein bis Juli haben im Jahr 2014 schon 16.191 Flüchtlinge Erstanträge für politisches Aysl in Deutschland gestellt. Das geht aus einer aktuellen Erhebung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervor. Sie alle kommen aus Kriegsregionen wie Syrien, Afghanistan, Irak oder Nigeria. Darunter sind jedes Jahr etwa 4000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die meisten von ihnen sind traumatisiert, haben gesundheitliche Probleme und leiden unter ihrem unsicheren Aufenthaltsstatus.


Nicht alle haben so viel Glück wie Morteza, der mit seiner Familie schon kurz nach der Ankunft in Deutschland in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Der Platz für Flüchtlinge ist rar - die Erstaufnahmeeinrichtung in München, in der auch Minderjährige zunächst untergebracht werden, ist eine ehemalige Kaserne. Die Bayernkaserne wird von den Jugendlichen hinter vorgehaltener Hand auch „Selbstmordkaserne" genannt - wegen der menschenunwürdigen Bedingungen.


Aufnehmen, lernen, orientieren

Am liebsten wäre Michael Stenger, dass die jungen Flüchtlinge direkt zu ISuS kommen. In der Regel dauert das nach ihrer Ankunft in Deutschland aber mindestens ein paar Wochen. „Im schlimmsten Fall hocken sie Monate lang in den mit Stacheldraht eingezäunten Bunkern fest", schimpft Stenger. Jeder Tag, den die Jugendlichen sprach- und orientierungslos in den Aufnahmelagern oder auf der Straße verbleiben, befördert die vielzitierten Negativkarrieren, schreibt der Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V. auf seiner Internetseite. Die Flüchtlingsschule ISuS will dem entgegenwirken und den Jugendlichen das Gefühl geben, dass „sie hier in Deutschland willkommen sind."


Die jungen Flüchtlinge zwischen 16 und 21 Jahren (in Ausnahmefällen bis 25 Jahren) absolvieren während ihrer Zeit bei ISuS eine einjährige Berufsvorbereitung (BVJ). Die Schüler werden nach Kriterien wie schulischen Vorkenntnissen, dem Alphabetisierungsgrad und den Deutschkenntnissen in fünf verschiedene Klassen aufgeteilt. Hier erhalten sie Unterricht in den Fächern Deutsch schriftlich, Deutsch mündlich und Mathematik. Neben den Kernfächern spielen im Lehrplan insbesondere Gleichberechtigung und Konfliktmanagement eine große Rolle.


Morteza hat während seiner Flucht viele Grausamkeiten erlebt. Vor seinen Augen wurden Menschen verletzt, manche sind gestorben. Trotz seiner furchtbaren Vergangenheit hat sich der 21-Jährige zum Vorzeigeschüler gemausert. Diesen großen Sprung schaffen so schnell nicht alle ISuS-Teilnehmer.


Aufgrund ihrer psychischen Vorbelastung sind viele der jungen Flüchtlinge schnell frustriert – vor allem zu Beginn eines Schuljahres, wenn sie zum ersten Mal aus den Aufnahmelagern heraus kommen. Andere haben in ihrem früheren Leben gelernt, auf Konflikte mit Gewalt zu reagieren, um sich selbst zu schützen.


Solche Verhaltensmuster übertragen manche dann auch in den Unterricht und suchen zum Beispiel Konflikte mit ihren Mitschülern. So auch ein ehemaliger Kindersoldat aus Sierra Leone, der schon mit zehn Jahren eine Waffe in die Hand bekam, um zu töten, berichtet Stenger. Dennoch kann er die Umstände nachvollziehen: „In Phasen, in denen du von deinen Erinnerungen heimgesucht wirst, interessieren dich natürlich keine Diktate oder Textaufgaben.“


Die Flüchtlingsschule ist nur der Anfang

Zu Beginn eines Schuljahres ist die Stimmung in der Münchner Flüchtlingsschule besonders schlecht. Die jungen Leute kommen  zum ersten Mal aus den Flüchtlingslagern und haben bis dato vor allem Ablehnung erfahren. Für diese besondere Situation erfordert es besondere Maßnahmen. Zusätzlich zum Lehrpersonal begleiten deshalb Sozialpädagogen die jugendlichen Flüchtlinge während ihrer Schulzeit. Gemeinsame Klassenprojekte und Ausflüge wie zum Beispiel zur Zugspitze sollen den Zusammenhalt stärken und den Spaß am Leben neu erwecken. Schon nach wenigen Monaten können viele von ihnen wieder lächeln.


Dass es die Flüchtlingsschule in München seit 2012 überhaupt gibt, ist einer Gesetzeslücke geschuldet: Zwar gilt in Deutschland nach der UN-Menschenrechtskonvention für Jeden das Recht auf Bildung, auch für Flüchtlingskinder. Doch jedes Bundesland entscheidet selbst, wie es dieses Grundrecht in die Praxis umsetzt. In Bayern endet die allgemeine Schulpflicht im Alter von 16 Jahren, danach greift die Berufsschulpflicht.


Von der waren AsylbewerberInnen und junge Flüchtlinge allerdings ausgeschlossen. „Wer älter war, fiel durchs Raster“, erklärt Stenger. „Der bekam keine staatliche Hilfe, um Deutsch zu lernen, für den wurde keine Bildung organisiert.“ Erst seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2011  gilt die Berufsschulpflicht auch für 16 bis 21-jährige junge Flüchtlinge, in Ausnahmefällen sogar bis 25 Jahre. ISuS will versuchen, so viele jugendliche Flüchtlinge wie möglich in dieser Situation aufzufangen und ihnen eine Direktbeschulung unmittelbar nach der Ankunft in Deutschland zu verschaffen.


Zu viele Flüchtlinge für zu wenig Platz

So sehr Michael Stenger und seine Kollegen es zwar wollen, allen jungen Flüchtlingen im Raum München können sie schon aus logistischen Gründen keine Hilfe leisten. ISuS vergibt gerade einmal 80 Plätze pro Schuljahr. Die an ISuS anschließende „SchlaU-Schule“ bietet immerhin 200 Plätze. Doch das ist immer noch viel zu wenig – gemessen an der Zahl von Menschen, die jedes Jahr allein nach München und Umgebung kommen.


Morteza will nach seiner Zeit in der Flüchtlingsschule eine Ausbildung zum Passkontrolleur machen. Das wollte er schon, als er noch in Afghanistan lebte. Ein Berufswunsch, der Ausdruck seines Bedürfnisses nach Sicherheit sein könnte, mutmaßt Michael Stenger. „Einige Eltern wollen nicht, dass ihr Kind überhaupt in die Schule geht“, erzählt Michael Stenger. „In der Zeit, in der sie lernen, könnten sie ja auch Geld verdienen. Bildung ist für viele nur nebenranging.“


Er träumt von einem besseren Leben

Morteza sieht das zum Glück anders. Er unterstützt seine Mutter dabei, Deutsch zu lernen und möchte, dass sie ihre Angelegenheiten irgendwann selbst regeln kann. Nach ein paar Jahren als Passkontrolleur träumt der junge Afghane von Abitur und Studium in Deutschland. Zurück nach Afghanistan möchte er nicht - höchstens in 20 Jahren, wenn dort alles vorbei ist.


Für den 21-Jährigen war die Flüchtlingsschule ISuS ein Boden, auf dem er erst stehen und dann gehen gelernt hat. Natürlich gibt das gemeinnützige Projekt niemandem die Garantie für ein gutes Leben – doch schon allein, dass sie hier Deutsch sprechen und schreiben lernen, gibt vielen Jugendlichen eine echte Zukunftschance. 


Der ehemalige Kindersoldat aus Sierra Leone arbeitet mittlerweile übrigens in einem Münchner Hotel als Portier. Dank ISuS hat er es geschafft, wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können.

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