Über 8000 Menschen sind am Samstag auf Chemnitz' Straßen unterwegs, um zu demonstrieren. Die einen gegen Merkels Flüchtlingspolitik, die anderen gegen die „Hetze". Schnell wird deutlich, wie tief der Graben zwischen beiden Lagern inzwischen ist.
Rosen und Kerzen liegen verstreut um ein Foto mitten in Chemnitz. Hier wurde Daniel H. ermordet. Sehr viele Menschen laufen am Samstag an seinem Gesicht vorbei, nur einige bleiben stehen. Eigentlich sollten sie alle wegen Daniel H.s Tod hier sein - und gleichzeitig scheint es den wenigsten um diesen Mord zu gehen. Denn die AfD, Pegida und das rechte Bündnis Pro Chemnitz wollen ein Zeichen setzen, hauptsächlich gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Ein breites Bündnis andersdenkender Gruppen demonstriert unter dem Motto „Herz statt Hetze" gegen dieses rechte Zeichen an. Insgesamt sind mehr als 8000 Menschen auf der Straße, schätzt die Polizei.
Drei junge AfD-Anhänger aus der Nähe von Düsseldorf machen am Tatort halt. Sie legen eine Blume neben das Foto. Ihre Namen wollen sie nicht in den Medien lesen. „Wir glauben, dass das hier ein historischer Moment sein könnte", sagt einer der drei grinsend. Er hat eine große Deutschlandflagge in der Hand. „Das könnte der Wendepunkt sein, hin zu einer größeren Öffentlichkeit für unsere Positionen, die wir nicht länger zurückhalten müssen", sagt er hochtrabend. „Und das wollen wir natürlich nicht verpassen", sagt sein Freund.
Die drei gehen die Straße hinunter. Sie schließen sich einer großen Menschenmenge etwas westlich des Tatorts an. Dort findet ein so titulierter Trauermarsch statt. Tausende Menschen sind dem Ruf von AfD, Pegida sowie Pro Chemnitz gefolgt.
Die AfD-Politiker Björn Höcke, Andreas Kalbitz, Jörg Urban laufen ganz vorne mit. Alle sind schwarz gekleidet. Nur Deutschlandflaggen sind erlaubt, keine weiteren Transparente oder politischen Bekenntnisse. „Wir wollen einen friedlichen Marsch veranstalten", sagt ein Sprecher kurz vor Start. Mehrfach fordert er Demonstranten auf, ihre Plakate einzupacken und sich zu beruhigen.
Knapp einen Kilometer weiter westlich steht eine deutlich buntere Menschengruppe. Grün, rot, oder komplett farbig gekleidet will eine ebenfalls große Zahl an Demonstranten zeigen, dass sie mit dem „Trauermarsch" nicht einverstanden ist. Jule H. ist eine von ihnen. Sie beobachtet das Geschehen unweit der Bühne vor der Johanniskirche. „Ich habe in Chemnitz studiert und bin erst vor Kurzem weggezogen", erzählt sie. „Mich besorgt diese Entwicklung enorm." Sie habe sechs Jahre in dieser eigentlich sehr schönen Stadt gelebt, habe aber einen starken Rechtsruck miterlebt. „Und das will ich nicht länger hinnehmen."
„Mein Freund ist türkischstämmig und fühlt sich hier nicht mehr sicher." Sie seien mehrfach auf der Straße angefeindet und beschimpft worden. Neulich sei er sogar zusammengeschlagen worden. Der Mord an Daniel H. sei sehr schlimm, so wie jede Straftat schlimm sei. Noch schlimmer fände sie allerdings, dass er nun für politische Zwecke instrumentalisiert werde. „Von wegen friedlich", sagt sie über den „Trauermarsch" und lächelt traurig.
„Wir müssen uns endlich eingestehen, was für ein gravierendes Problem hier entstanden ist", sagt Cem Özdemir. Der Politiker und ehemalige Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen hat sich auf nach Chemnitz gemacht und steht am Samstagnachmittag am Tatort. Er will sich hier nicht in den Vordergrund drängen, spricht auf keiner der Kundgebungen. Dafür zündet er eine Kerze an. „Ich werde die Trauer nicht den AfD-Funktionären überlassen", sagt er. Man müsse nun klare Kante gegen die Funktionäre der AfD zeigen. „Und dafür brauchen wir ein breites Bündnis aus den demokratischen Parteien, die entschieden sehr stark gegen die AfD-Führung vorgehen", sagt er.
Özdemir hat den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte viel zu oft der AfD-Wähler als der Kern des Problems dargestellt würde - dabei liege die eigentliche Gefahr in fremdenfeindlichen Funktionären wie Björn Höcke.
„Ich zolle Michael Kretschmer Respekt, dass er den Dialog mit Bürgern gesucht hat", sagt Özdemir. Er bezieht sich auf eine Veranstaltung, auf der der sächsische Ministerpräsident am Donnerstagabend mit den Chemnitzern diskutierte. Das sei die Art von Präsenz, die Politiker nun viel häufiger hier zeigen müssten.
Daraufhin kommt ein Mann auf Özdemir zu. „Wo wart ihr denn die ganze Zeit?", ruft er aufgebracht. „So was muss passieren, damit ihr euch hier zeigt?" Özdemir redet eine Weile mit ihm und verspricht, wiederzukommen. Dann mischt er sich unter die Demonstranten von „Herz statt Hetze".
Die schwarz gekleideten Demonstranten der AfD-Veranstaltung rufen währenddessen ungeduldig durcheinander. Die Slogans „Merkel muss weg" und „Lügenpresse" werden immer wieder laut. Der Mann am Mikrofon beschwichtigt wiederholt: „Wir wollen eine ruhige und geordnete Veranstaltung."
Doch die Leute werden unruhig. Der Start des Marsches verzögert sich um mehr als eine Stunde. Die Polizei muss die Ordnungskräfte rund um die Demo noch zählen. Die Stimmung ist angespannt. Als sie am Rand einmal zu kippen droht, sind sofort derart viele Polizisten vor Ort, dass sich die Masse wieder beruhigt.
Dann geht es los. Rund zehn Menschen rennen direkt auf Höcke, Kalbitz und Urban zu und rufen: „Ekelhaft, dieser braune Mob." Die Polizei greift sie direkt auf und hält sie von der Demo fern.
Und dann ist der „Trauermarsch" für gut eine halbe Stunde tatsächlich an vielen Stellen so, wie die AfD sich es gewünscht hat: ruhig und geordnet. Die Menschen gehen leise flüsternd hintereinander her. Ein Foto von Daniel H. wird vor ihnen hergetragen.
Helga S. läuft mit. „Ich komme aus Dresden", sagt sie. Dort geht sie immer mit ihrem Mann zu den Pegida-Demos. Diese Woche ist sie schon zum zweiten Mal in Chemnitz. „Das kann einfach nicht so weitergehen", sagt die Geschichtslehrerin aufgebracht. „Diese Ausländer wollen einfach nicht arbeiten." Das treffe zumindest auf derart viele zu, dass ihre Aussage nicht pauschalisierend sei. Sie habe das beobachtet. „Ich wohne ja neben so einem Flüchtlingsheim", sagt sie. „Die sitzen da den ganzen Tag nur rum." Als junge Frau sei sie öfters von Ausländern belästigt worden.
„In der DDR wäre das nicht passiert, da hätte man die einfach in ein Arbeitslager gesteckt", sagt sie dann. „Das sollte man heute auch machen." Auf die Frage, ob sie das ernst meine, lacht sie nur. „Was ist nur mit diesem Land geschehen?", ruft sie auf einmal sehr wütend. Dann fängt sie mit den Menschen um sie herum an, „Lügenpresse" zu rufen.
Es ist bezeichnend, dass eine Demonstrantin, die viel Ahnung von deutscher Geschichte haben sollte, fordert, dass man Menschen in ein Arbeitslager steckt. Noch bezeichnender ist, dass diese Forderung nicht nur auf dieser Seite der Demonstrationen erhoben wird. Mitten in der bunten Masse bei „Herz statt Hetze" stehen Jens Bürner und Matthias Mischker, beides gebürtige Chemnitzer.
Die beiden erzählen erst von ihren vielen Reisen ins Ausland und von der herzerwärmenden Gastfreundschaft, die sie erfahren haben. „Chemnitz ist weltoffen und friedlich, und dafür wollen wir demonstrieren", sagen sie. Die Forderungen der AfD hätten nichts mit ihrer Stadt zu tun. „Das macht mich richtig wütend", echauffiert sich Mischker dann. Dass die rechten Kräfte in Chemnitz so stark werden konnten, liegt seiner Meinung nach auch an der Schwäche der Polizei und des Staates allgemein. „In der DDR wäre das einfach nicht passiert", sagt er. „Da hätte man die Menschen in ein Arbeitslager gesteckt, und das sollte man mit diesen AfD-Idioten ehrlich gesagt auch tun."
Mit dieser Aussage ist Mischker fast auf der Linie der Pegida-Anhängerin Helga S. Sie unterstreichen die Spaltung, die in Chemnitz in der Luft liegt. Der „Trauermarsch" der Rechten wird ungefähr auf der Hälfte abgebrochen, sodass die Demonstranten nicht direkt an den Gegendemonstranten vorbeiziehen. Noch bis spät in den Abend versuchen Anhänger der AfD, noch eine spontane Kundgebung in der Nähe des Tatorts veranstalten zu dürfen. Doch die Polizei zeigt klare Kante: Das geht nicht.
Am Ende des Tages liegen ein paar mehr Rosen um das Foto von Daniel H., sonst scheint der Tatort unverändert. Der Fall ist nicht weiter aufgeklärt. Stattdessen sind einige neue Fälle für die Polizei entstanden: Am Rande der Demonstrationen gab es Ausschreitungen, außerdem berichteten mehrere Journalisten, von Demonstranten gewalttätig angegangen worden zu sein.
„Das alles hätte Daniel nie gewollt!", ruft eine wütende Demonstrantin, als sie an dem Tatort vorbeigeht. „Er war kein AfD-Sympathisant!" Ein älterer Herr in Schwarz antwortet genauso wütend: „Er ist ein Exempel. Schaut nur, was mit unserem Land passiert ist."
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