Citizen Science kann man - zumindest im deutschsprachigen - als den Ursprung archäologischer Forschung bezeichnen. Für Karina Grömer ist Partizipation bis heute ein zentrales Element ihrer archäologischen Arbeit im Naturhistorischen Museum Wien. Wie viele Museumsmitarbeiter*innen betreut sie Ehrenamtliche, die transkribieren und recherchieren. Wie nur wenige andere betreibt sie aber auch digitale Kanäle, auf denen sie mit Menschen aus aller Welt über ihre Arbeit und deren Ideen dazu diskutiert.
Kristin Oswald: Liebe Fra Grömer, die erste Frage wäre ganz im Allgemeinen welchen Ansatz Sie persönlich verfolgen? Also die Rahmendaten des Projektes - Thema, Aufbau, Laufzeit, Ressourcen, Mitarbeiter, Ziele.
Karina Grömer: Das, was heute unter Citizen Science verstanden wird, betreiben wir im Prinzip, seitdem der Begriff im deutschsprachigen Raum Konjunktur hat, also seit etwa 2014/15. Wir haben immer schon am Naturhistorischen Museum in Wien Laien miteingebunden, sowohl direkt helfend, um Forschung zu unterstützen, als auch um selbst Dinge zu generieren. Es hat eine sehr lange Tradition bei uns, über 50 - 60 Jahre. Und wir haben allein in der Prähistorischen Abteilung immer um die 40 Menschen, die als Pensionisten oder Ehrenamtliche die Wissenschaft unterstützen. Sie machen das auf verschiedenen Ebenen. Das kann etwas Einfaches sein, wie in der Restaurierungswerkstatt zu helfen. Meine ehrenamtlichen Mitarbeiter übersetzen alte Handschriften, aber sie reisen auch herum, recherchieren Quellen, gehen in Archive, befragen Leute vor Ort und leisten so wirklich einen wissenschaftlichen Beitrag, obwohl sie keine Historiker sind oder so etwas. Sie betreiben eigentlich nichts anderes als ein Wissenschaftler, helfen uns auch, Dinge zu verstehen, sind aber Laien, werden am Anfang angeleitet und machen dann die Aufgaben, die sie von uns bekommen, weitgehend in Eigenregie und oft auch über die eigentliche Aufgabe hinaus. Also sind diese Sachen wirklich ein Beitrag zur wissenschaftlichen Arbeit. Ich persönlich hätte nicht die Ressourcen, um all das zu machen. Und so mancher Historiker könnte es nicht besser als meine Citizen Scientists. Das muss ich schon sagen.
Kristin Oswald: Fließt das auch in andere Bereiche des Museums ein, beispielsweise in Ausstellungen?
Karina Grömer: Ja, natürlich! In den Ausstellungen selbst verwenden wir diese Erkenntnisse, aber auch an den Ausstellungspublikationen arbeiten die Ehrenamtlichen mit oder werden erwähnt. Es ist quasi eine Erweiterung unserer Tätigkeiten und vieles, was wir machen, würden wir nicht schaffen ohne diese Menschen.
Karina Grömer: Wir haben im ganzen Haus um die 250 Ehrenamtliche in den verschiedensten Bereichen und die beteiligen sich mitunter sehr konkret an der Wissensgenerierung und am wissenschaftlichen Diskurs. Die Menschen, die konkret mit mir arbeiten, betreiben das als Hobby abseits ihrer normalen Arbeit. Ihr eigentlicher Beruf fließt aber schon manchmal mit ein. Einer hat zuvor bei einem Verlag gearbeitet, der andere war Musiker. Hier machen sie jetzt etwas, das sie schon immer interessiert hat, wo sie aber nie eine berufliche Perspektive gesehen haben. Das können sie hier hemmungslos ausleben. Und ihnen fallen schon sehr oft Sachen auf, die ich vielleicht nicht gesehen hätte, weil sie wirklich viel Zeit haben und sehr viel Liebe und Energie reinstecken. Sie verbeißen sich teilweise wirklich richtig in Dinge und forschen und hinterfragen. Das ist schon sehr imposant, diese Eigeninitiative. Es kommt auch darauf an, was genau sie hier machen. Diejenigen, die Funde restaurieren, haben weniger Möglichkeiten, sich so intensiv einzubringen.
Ich habe selbst Citizen Science-Projekte, bei denen es um historische Webtechnologie geht und das mache ich über das Internet, über Pinterest. Da schmeiße ich Fragen und Ideen in die Welt raus, freue mich über alles, was zurückkommt, und korrespondiere dann mit denen, die zurück posten, konkrete Anfragen stellen oder vielleicht sogar meine Forschung kritisieren. Das ist toll. Da sind wirklich schon wissenschaftliche Erkenntnisse draus entstanden. Ich habe zum Beispiel mit einer Lehrerin aus Finnland sogar auf einer Konferenz etwas präsentiert und publiziert. Das hat wirklich eine neue Forschungsfrage generiert zu alten Webtechnologien, die nur durch Experimente erschließbar sind. Dazu hatte sie ganz neue Ideen, ist sogar nach Wien gekommen und wir haben die Originale diskutiert.
Karina Grömer: Die Motivation ist einerseits das persönliche Interesse der Menschen am Thema, aber auch die Nahbarkeit oder Berührung mit einer Institution, an die man sonst nicht rankommt. Wir merken das immer wieder, auch an den vielen Anfragen, die wir über die Homepage oder andere Wege bekommen. Oft ist in der Anfrage die Motivation, reinschnuppern zu wollen. Die Menschen fühlen sich dann auch sehr wohl bei uns und sind stolz darauf, dass sie - wenn auch nur freiwillig - mitarbeiten können. Die meisten davon sind Pensionisten. Sehr treue Seelen, die kommen einmal in der Woche oder auch öfter, machen Kaffeepausen mit uns oder den anderen Freiwilligen, werden zu Ausstellungseröffnungen eingeladen usw.
Kristin Oswald: Was würden Sie denn sagen ist für Sie ein Qualitätskriterium?
Karina Grömer: Bei Qualität im Bereich Citizen Science geht es um beide Seiten, um die Menschen und auch um das Haus. Es gibt natürlich eine große Bandbreite an unterschiedlichsten Tätigkeiten, die man als Citizen Science betrachten kann. Für die Leute kommt es darauf an, dass wir begreifen, was ihnen wichtig ist und warum sie kommen. Gerade die Pensionisten wollen etwas Vernünftiges tun mit ihrer Zeit für die Gesellschaft im Museum, weil das Museum als Institution für sie ein Ort des Wissens und der Wissensweitergabe ist. Für jüngere Leute geht es auch um Spaß, aber auch darum, sich einzubringen, zumindest kurzfristig, und etwas Gutes getan zu haben. Bei denen, die jahrzehntelang zu uns kommen, ist es die Leidenschaft und auch der Stolz, dass sie etwas zu einer Institution beitragen. Und wenn wir ihre Ergebnisse dann ausstellen, präsentieren oder publizieren, oder wenn wir spezielle Aktionen für sie machen, freuen sie sich wahnsinnig. Es geht um die Wertschätzung von uns an sie, das ist ein unglaublicher Motivator. Also insgesamt geht es das Wertschätzen, etwas Wertvolles mit seiner Zeit machen, etwas beitragen und ganz wichtig ist auch die Gemeinschaft untereinander. Bei einem Museum als öffentlicher Institution ist auch die Schwellenangst nicht so groß wie bei einer reinen Forschungseinrichtung.
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass unser Haus eine richtige verschriftlichte Citizen Science-Strategie hat. Es geht nicht nur um Forschung, sondern die Ausstellungsabteilung entwickelt auch neue partizipative Elemente, einen Gemeinschaftsraum für experimentelle Ansätze usw. Meine Webtechnik kommt darin auch vor. Die Menschen können sich das in der Ausstellung anschauen, bekommen Hintergrundinformationen und können sich dann selbst daran beteiligen, eine Ideencloud dazu zu generieren, was Textilien für historische, aber auch jetzige Gesellschaften bedeuten in Hinblick auf Identität usw. Das ist für mich ein sehr wichtiger Punkt, dass Archäologie auch einen persönlichen Bezug hat und dass man durch Partizipation der Museumsbesucher die Meinungen und Stimmungen dazu einfängt. Die Ergebnisse werde ich dann für die Lehre an Hochschulen verwenden, aber sie fließt auch wieder in die Forschung und die Ausstellungen ein. Ich freue mich schon sehr drauf. Allerdings ist das bei meinem Thema Kleidung auch sehr einfach, denn jeder Mensch hat eine Meinung dazu, jeder drückt sich durch Kleidung aus. Der Zugang ist da sehr direkt und das ist nicht bei jedem archäologischen Thema so.
Es gibt in Österreich eine Initiative, die nennt sich Young Science-Botschafter. Da bin ich fürs Museum unterwegs in Schulklassen mit meinem Forschungsprojekt. Neben dem Thema Kleidung geht es dabei vor allem darum, dass man der Gesellschaft wieder klarmachen muss, warum Forschung passiert und welche Relevanz sie hat. Bei der Forschung um Textilien und Kleidung sehe ich das zum Beispiel stark in Schulen mit einem hohen Migrantenanteil und den Diskussionen um Kopftuch usw. Da kann meine historische Perspektive helfen, die Blickwinkel zu verändern und darüber nachzudenken, wie sich die Leute damals und heute selbst über Kleidung definiert haben und mit welchen Vorurteilen das einhergeht. Ein anderes Thema ist Handwerk und ein Verständnis dafür, was Menschen können und wie hochwertig auch Dinge sein können, die man selbst macht.
Bei dem Pinterest-Projekt geht es um konkrete Funde aus Hallstatt um 600 v. Chr. und wie die hergestellt wurden. Da habe ich einen Hashtag ins Leben gerufen und seitdem posten die Menschen Gegenvorschläge, Umsetzungen des Designs, flechten sich solche Bänder in die Haare, machen Taschengriffe daraus oder benutzen es im Unterricht und posten das. Sie beschäftigen sich quasi weltweit mit dieser Technik. Und die referenzieren eigentlich immer auf uns, wenn sie Kommentare schreiben, auf diesen alten archäologischen Fund aus Österreich. Ich finde das so spannend, wenn man diese Sachen so in die Welt wirft, was dann zurückkommt von den Menschen und was sie mit dieser Information tun, die man ihnen gibt. Ich reagiere auch immer auf Kommentare und Nachrichten. Da sieht man, dass das, was man tut als Archäologe, auch für normale Leute eine Relevanz bekommt, wichtig ist für ihr Hobby und um sich auszudrücken. Ich finde das wahnsinnig spannend und mir gefällt das sehr gut.
Karina Grömer: Die Schwierigkeiten, die ich erlebt habe, waren eigentlich nur zeitlicher Natur. Es gibt unglaublich viele Menschen, die sich dafür interessieren, was ich tue. Aber das ist auch sehr speziell und man braucht bestimmte Fähigkeiten und deshalb ist es vor allem in der Anfangsphase sehr betreuungsintensiv, bis diejenigen verstanden haben, worum es geht, und bis sie es können. Ich bekomme sehr viele Anfragen von Menschen, die sich einbringen wollen, und ich muss immer wieder welche ablehnen, weil ich einfach keine Zeit habe, mich so intensiv damit zu beschäftigen. Das wird immer übersehen. Mein Auftrag im Museum ist ja eigentlich ein anderer, auch wenn wir Citizen Science machen sollen und sich das Museum damit schmückt. Aber das passiert nicht von selbst. Die Leute partizipieren nicht einfach und alles wird schön und besser, weil so viel Input kommt. Ich mach das wahnsinnig gern, aber wenn ich einfach normal meine Arbeit machen und das außen vor lassen würde, wäre mein Leben weniger hektisch. Bei Leuten, die das seit zehn Jahren machen, weiß man genau, dass das alles passt. Aber ansonsten ist die Kontrolle gerade in den Anfangsstadien fast mehr Aufwand als wenn man es selbst machen würde. Wenn man das, was diese Menschen generieren, für die Wissenschaft benutzen möchte, muss es wissenschaftlichen Standards genügen. Das funktioniert auch nicht bei jedem. Wir hatten schon viele, die versucht haben reinzuschnuppern, aber für die es dann doch nicht das richtige war.
Karina Grömer: Meine persönliche Meinung zu Co-Kreation bzw. basisdemokratischer Partizipation ist nicht sehr enthusiastisch, denn wenn man nur Räume zur Verfügung stellt, die Menschen ihre Forschungsfragen selbst entwickeln, sich ihre Ausstellung selbst bauen und alles selbst kreieren, dann schafft man sich ab. Wozu gibt es dann noch Geisteswissenschaftlicher? Es gibt einen Grund, warum manche Sachen studiert werden und warum man sich im Studium intensiv mit Dingen beschäftigen muss, damit man dann die Wissenschaft korrekt betreiben kann. Sehr oft gibt es in der Archäologie enthusiastische Heimatforscher und die sind unglaublich wertvoll und gut, das will ich nicht bestreiten. Aber es gibt eine Linie zwischen Menschen, die sich etwas zusammentragen, und studierten Wissenschaftlern und wenn diese Linie verschwimmt, kommen Dinge raus, die simplifiziert oder in eine bestimmte Richtung interpretiert werden und bei denen die wissenschaftliche Reflexion fehlt, weil die Leute das einfach nicht gelernt haben.
Karina Grömer: Ich habe schon das Gefühl, dass das genau das ist, was sie eigentlich wollen - angeleitet werden, Teil eines größeren Ganzen sein, bei dem aber doch wer noch darüber steht und die Richtung vorgibt. Die einen sind selbstständiger als andere und denken Sachen weiter, was wir auch gern mit einfließen lassen. Insgesamt ist es eine flache Hierarchie, aber es ist schon eine. Dadurch haben sie ja auch das Gefühl, dass sie an etwas gemeinschaftlich teilnehmen und nicht einfach irgendetwas machen. Und das funktioniert nicht, wenn jeder als Individuum agiert, sondern es braucht ein gemeinschaftliches Ziel und jemanden, der die Linie vorgibt, wo es hingeht.
Karina Grömer: Ja, ich finde es ist wichtig, weil die Menschen heutzutage viel mündiger sind, aktiv mitgestalten wollen und sich nicht nur wie eine Schafherde behandeln lassen wollen. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die sich nur berieseln lassen wollen. Aber diejenigen, die sich interessieren, wollen auch gestalten. Wenn sie das bei einer Institution machen, glaube ich aber, dass die Menschen das Gefühl haben wollen, dass die Institution die Oberhand behält und sagt, wo es langgeht. Schule ist ein guter Vergleich, denn auch da gibt es heute sehr viel Mitsprache und weniger Frontalunterricht. Aber selbst da muss man aufpassen, dass trotzdem die Ziele, die erreicht werden müssen, auch erreicht werden. Aber so ganz frontal, zu sagen „Wir sind die Bildungsinstitutionen und ihr habt zu konsumieren, zu lernen und brav zu sein" - das funktioniert nicht mehr.
Rétablir l'original