Das Gespräch findet so statt, wie Sarah Kadiu aus Bremen und Marius Wittwer aus Leipzig seit Monaten einen Großteil ihres Schulalltags verbringen: am Tablet und vor dem Laptop, im Hintergrund das Jugendzimmer anstelle eines Klassenraums. Die beiden starten in den kommenden Tagen in ihre Abiturprüfungen. Während Wittwer sich im Vorfeld für ein sogenanntes Durchschnittsabitur eingesetzt hat, will Kadiu nicht auf die regulären Prüfungen verzichten.
Mit dem SPIEGEL sprechen sie darüber, wie sie die Diskussion um ihren Abschluss erlebt haben, wie sicher Prüfungen in der Pandemie sein können und ob sie Angst davor haben, auf ewig der Jahrgang mit dem »Corona-Abi« zu sein.
Sarah Kadiu besucht das Hermann-Böse-Gymnasium in Bremen und ist dort Schülersprecherin. Die 18-Jährige nimmt regelmäßig an nationalen und internationalen politischen Planspielen teil. Nach dem Abitur will sie ein duales Studium zur Wirtschaftsprüferin in Hamburg und Stuttgart beginnen.
Marius Wittwer geht in die Abschlussklasse des Beruflichen Schulzentrums Karl-Heine-Schule in Leipzig. Davor hat der 21-Jährige eine Ausbildung zum Gästeführer absolviert. In seiner Freizeit engagiert er sich im Leipziger Jugendparlament. Nach seinem Abschluss plant er ein Geschichtsstudium.
SPIEGEL: Die Kultusministerkonferenz hat entschieden: Die Abiturprüfungen finden auch im zweiten Coronajahr statt. In den ersten Bundesländern ist es schon losgegangen, Sie starten in wenigen Tagen. Wie geht es Ihnen damit?
Kadiu: Ich bin aufgeregt, weil ich nicht genau weiß, was mich erwartet. Und weil ich in der Vorbereitungszeit feststellen musste, dass ich wegen der erschwerten Bedingungen in der Pandemie doch vereinzelt Wissenslücken habe. Gleichzeitig freue ich mich, weil ich weiß, dass das Kapitel Schule mit den Abschlussprüfungen endet. Und ich hoffentlich danach sagen kann: Trotz Corona habe ich mein Abitur geschafft.
Wittwer: Ich betrachte das eher mit Sorge. Nicht unbedingt weil ich mich frage, ob ich die Prüfungen schaffe, sondern wegen der Infektionsgefahr. Leipzig ist umgeben von Hochinzidenz-Gebieten. Entsprechend groß ist die Verunsicherung, wie unter diesen Umständen sichere Prüfungen garantiert werden sollen. Kurz bevor es losgeht, hat meine Schule uns nun mitgeteilt, dass die Masken am Platz abgenommen werden dürfen. Wenn ich das höre, graut es mir – auch wenn wir vorher einen Schnelltest machen müssen.
SPIEGEL: Anfang April erst hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gefordert, die Prüfungen ausfallen zu lassen, sollten die Infektionszahlen »dramatisch ansteigen«. Tatsächlich sind sie seitdem gestiegen. Und trotzdem wollen Sie die Prüfungen schreiben, Frau Kadiu – vor Ort, mit vielen anderen?
Kadiu: Ich habe den Eindruck, dass meine Schule gut aufgestellt ist. Ende Februar haben wir unsere Vorabiturklausuren geschrieben. Wir mussten die gesamte Zeit über eine Maske tragen und uns vorher testen lassen, alle 20 Minuten wurde gelüftet. So sollen, zumindest Stand jetzt, auch die tatsächlichen Prüfungen ablaufen. Das ist umständlich, aber ich bin dankbar, das Abi-Jahr einigermaßen normal beenden zu dürfen.
Wittwer: Das klingt nach einem besseren Hygienekonzept als bei uns. Ich glaube trotzdem, dass sich solche Prüfungen zu Hidden Hotspots entwickeln könnten. Generell bin ich der Meinung, dass Prüfungen in dieser Zeit ein Fehler sind – zumindest in der Form, wie sie jetzt stattfinden sollen.
SPIEGEL: Herr Wittwer, Sie haben bereits im Januar mit einigen Mitschülerinnen eine Petition gestartet, in der Sie den sächsischen Kultusminister auffordern, auf verpflichtende Abiturprüfungen zu verzichten und stattdessen ein sogenanntes Durchschnittsabitur zu gestatten, mit der Möglichkeit, die Abschlussprüfungen freiwillig abzulegen. Warum halten Sie das für den gerechteren Weg?
Wittwer: Durch Modellrechnungen wusste man schon damals, dass es sehr wahrscheinlich zu einer dritten Welle kommt, die genau in unsere Prüfungszeit fällt. Wir als Schüler hatten aber den Eindruck, man wollte das in den offiziellen Etagen nicht richtig wahrhaben. Von unserem Vorstoß haben wir uns erhofft, Lösungsvorschläge oder Pläne zu bekommen, die darauf eingehen. Das Durchschnittsabitur hätte eine Option sein können, die Prüfungen auszudünnen, das Infektionsrisiko zu senken und trotzdem eine faire Benotungsgrundlage zu schaffen.
SPIEGEL: Sie fordern, die Noten aus den vier Kurshalbjahren vor dem Abitur heranzuziehen. Aber schon das zweite Halbjahr 2019/20 war ja durch die Coronapandemie erheblich beeinträchtigt. Warum soll das Durchschnittsabitur Ihrer Meinung nach trotzdem die bessere Variante sein?
SPIEGEL: Die Leistungen aus dem Unterricht als Grundlage für die Notengebung heranzuziehen, das war auch ein Vorschlag der GEW. Frau Kadiu, wie stehen Sie dazu? Fänden Sie ein Durchschnittsabi gerecht?
Kadiu: Ich habe nicht grundsätzlich etwas dagegen. Nur hätte man viel früher darüber sprechen müssen und nicht erst kurz vor den Prüfungen, wie es die GEW gemacht hat. Für mich gibt es aber auch gute Gründe dafür, die Abschlussprüfungen regulär abzulegen. Das Bremer Abitur genießt bundesweit sowieso schon keinen guten Ruf, da will ich nicht zusätzlich wegen eines Durchschnittsabis benachteiligt werden. Ich möchte in den Prüfungen zeigen, was ich kann, und Anerkennung dafür bekommen, dass ich die Themen trotz der schwierigen Umstände gelernt habe.
SPIEGEL: Steckt dahinter auch der Wunsch, nicht auf ewig der Jahrgang mit dem »Corona-Abi« zu sein?
Kadiu: Absolut. Das Durchschnittsabitur hätte uns wahrscheinlich noch lange nachgehangen. Wäre der Vorschlag durchgesetzt worden, hätte zumindest klar sein müssen, wie es danach weitergeht, zum Beispiel ob wir damit trotzdem ganz normal an Hochschulen zugelassen werden.
Wittwer: Das stimmt. Beim Vornotenabitur hätte es vorher definitiv Absprachen mit Hochschulen geben müssen. Ein NC ist in diesem Jahr überhaupt nicht geeignet als Auswahlkriterium, weil wir eben so eklatante Unterschiede haben. Eignungstests wären ein besseres Mittel gewesen. Aber man muss doch auch sagen: Wir sind nun mal der Coronajahrgang, das wäre mit oder ohne Prüfung ein Malus geworden.
SPIEGEL: Tatsächlich wurden die Regelungen für das diesjährige Abitur schon angepasst: Manche Bundesländer räumen mehr Bearbeitungszeit ein, andere fragen weniger Themen ab oder stellen mehr Aufgaben zur Auswahl. Was halten Sie davon?
Kadiu: Wir bekommen unter anderem 30 Minuten mehr Bearbeitungszeit für die Klausuren. Das bringt uns für die Lernphase erst mal nichts, aber es ist ein kleiner Puffer, der uns in der Prüfung vielleicht eine kurze Verschnaufpause verschafft. Was ich wirklich gut finde: In Bremen haben wir die Möglichkeit bekommen, kostenlos Onlinenachhilfe zu nehmen. Das hat mir in Physik sehr geholfen, gerade jetzt wo man sich viel selbst beibringen muss und nicht immer ein Lehrer zur Verfügung steht.
Wittwer: Neben den 30 Minuten zusätzlicher Bearbeitungszeit kamen bei uns sukzessive weitere Erleichterungen hinzu, etwa Wahlmöglichkeiten bei den Prüfungsterminen. Oder auch dass die Zweit- und Drittkorrekturen ebenfalls an unserer Schule vorgenommen werden, was eine faire Benotung gewährleisten soll. Die Maßnahmen sind für mich in Ordnung. Aber für Leute, die wirklich abgehängt sind – und das sind einige –, für die ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
SPIEGEL: Nicht nur die Prüfungen werden sich unterscheiden, auch die Vorbereitung darauf lief wegen der Coronapandemie unterschiedlich ab, Präsenzzeiten zum Beispiel variierten je nach Bundesland. Kann das diesjährige Abitur also überhaupt verglichen werden – mit früheren Jahrgängen, aber auch zwischen den Ländern?
Wittwer: Schon vor der Pandemie ließ sich das Abitur ja nicht richtig vergleichen. Von Land zu Land, von Schule zu Schule läuft es unterschiedlich. Das wird durch die Pandemie noch mal verstärkt.
Kadiu: Wir haben Tablets von der Schule bekommen, anderen fehlt die technische Ausstattung für den Onlineunterricht. Allein das führt zu Unterschieden, die Bundesländer und Schulen noch viel mehr spalten, als es bereits vor Corona der Fall war.
SPIEGEL: Trotzdem wird die Vergleichbarkeit als Argument für die Prüfungen herangezogen.
Wittwer: Das ist für mich ein Strohmann-Argument. Man will »business as usual«, aber das ist nun mal nicht zu machen.
SPIEGEL: Hat Sie der Vorstoß der GEW kurz vor Ihren Prüfungen verunsichert?
Wittwer: Das Hin und Her war für viele sehr verwirrend. Wir brauchen als Schüler in dieser Situation kurz vor den Prüfungen Sicherheit. Das ist in konventionellen Jahren so, und erst recht in einer Pandemie.
Kadiu: Man konnte das schon fast gar nicht mehr ernst nehmen. Ich habe es deshalb weitestgehend ignoriert und mein Lernen fortgesetzt. Generell hätte ich mir in dieser Diskussion, aber auch bei anderen Entscheidungen in meinem Bundesland gewünscht, dass man mehr mit uns Schülern und den Lehrkräften spricht. Wir können die Situation schließlich am besten bewerten.
SPIEGEL: Haben Sie Angst, durch die Pandemie schlechtere Chancen bei den Uni-Bewerbungen oder auf dem Arbeitsmarkt zu haben?
Wittwer: Das glaube ich nicht. Für mich ist es sowieso eine veraltete Herangehensweise, dass so viel Wert auf den Abischnitt gelegt wird. Am Ende zählt, was man kann: die Interessen, der Charakter, das Engagement.
Kadiu: Ich habe mir schon in den vergangenen Sommerferien darüber Gedanken gemacht, was ich machen möchte, und mich dann für ein duales Studium beworben. Auf meine Bewerbungen habe ich zumindest damals nie die Rückmeldung bekommen, dass ich ja nur ein Corona-Abi bekomme und deshalb schlechter geeignet wäre.
Wittwer: Bei alldem, was wir geleistet haben in den letzten Monaten, müssten wir eigentlich ein Abizeugnis mit Goldrand bekommen.