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Studierendenproteste in der Pandemie: Sie wollen wieder an die Uni

Mitglieder der Initiative »Nicht Nur Online« vor der Humboldt-Universität zu Berlin Foto: Claudia Rohmer

Offene Briefe, Tweets, eine symbolische Versteigerung: Vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am Montag protestieren in mehreren Unistädten Studierende. Sie wollen verhindern, wieder einmal vergessen zu werden.

Die Immatrikulation an der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin ist für viele der Anfang von etwas ganz Großem. Das Hauptgebäude Unter den Linden, das Karl-Marx-Zitat in der Eingangshalle, die vielen Nobelpreisträger, die vielen Möglichkeiten. In der Coronapandemie schrumpft das alles zusammen, auf ein kleines WG-Zimmer, einen kleinen Computerbildschirm. Wie an den meisten Hochschulen in Deutschland sind Präsenzveranstaltungen an der HU weitestgehend ausgesetzt, die Bibliotheken geschlossen, viele Studierende haben ihre Uni seit Monaten nicht von innen gesehen, manche noch nie.

An diesem Montag im März, genau eine Woche vor der nächsten Bund-Länder-Runde, haben sich einige von ihnen zumindest draußen vor dem verschlossenen Tor versammelt. Sie stehen mit Abstand, tragen FFP2-Masken, halten Banner und Plakate. "Wir werden langsam zu Zoombies", steht darauf. Oder: "Zu verkaufen! Was ist euch unsere Bildung wert?"

Eingeladen hat die Initiative "Nicht Nur Online", in der sich Studierende aller Berliner Hochschulen organisieren. Sie will heute das HU-Hauptgebäude versteigern - die Räume würden ja sowieso nicht mehr gebraucht, nicht für die Lehre zumindest. Es ist ein symbolischer Akt, eine etwas absurd klingende Idee, hinter der aber viel Verzweiflung steckt: "Wir verstehen, dass man in der Verantwortung allen gegenüber Verzicht zeigen muss und sind bereit, das mitzutragen. Aber wir verstehen nicht, warum es kein Konzept gibt, warum mit uns nicht gesprochen wird und wir in der öffentlichen Debatte so wenig gesehen werden", sagt Student Johannes Hofmann, 30, ins Mikrofon. Die etwa 100 Zuhörer:innen klatschen.

Seit Beginn der Pandemie gibt es immer wieder Protestaktionen von Studierenden. Ging es am Anfang vor allem um erst ausbleibende, dann unzureichende Finanzhilfen, werden inzwischen die großen Fragen gestellt: Wie lang will man Studierenden das Lernen auf Distanz noch zumuten? Wieso gibt es keine Teststrategie für Unis, keinen Öffnungsplan, keine Perspektive? Und warum werden Studierende immer wieder vergessen?

Keine Erwähnung im Beschlusspapier

Die Initiative "Nicht Nur Online" hat sich Mitte Februar gegründet. Schon eine Weile hätte sich Frust aufgestaut gehabt, sagt Lucie Gröschel, 21, die zu den Gründer:innen gehört. Einen großen Schub hätten dann die Bund-Länder-Beratungen Anfang März gegeben. "Es wurde über Öffnungen der Fitnessstudios, Baumärkte und Biergärten gesprochen, aber die Universitäten und wir Studierende waren überhaupt nicht Thema und tauchen in dem Beschlusspapier an keiner Stelle auf."

Ihre Forderungen hat die Initiative in einem offenen Brief an Politik und Hochschulleitungen formuliert; vor allem wünscht sie sich eine schrittweise und vorsichtige Rückkehr zur Präsenzlehre. "Die Selbstverständlichkeit, mit der die Universitäten geschlossen gehalten werden, entbehrt jeder Rechtfertigung", heißt es in dem Brief. Knapp 1400 Unterstützer:innen haben bisher unterschrieben.

Ihr Unmut ist mehr als bloßes Genervtsein. Vor dem Tor der HU wird immer wieder das Thema Einsamkeit angesprochen, der Motivationsverlust, die Gefahr ernster psychischer Probleme.

Onlinelehre funktioniert - aber nicht auf Dauer

Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Onlinelehre an deutschen Hochschulen gut funktioniert. Eine Befragung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), die am Donnerstag veröffentlicht wurde, zeigt, dass der Vorlesungs- und Prüfungsbetrieb im Wintersemester 2020/21 fast vollständig aufrechterhalten werden konnte. Sowohl Studierende als auch Lehrende wünschen sich sogar, dass digitale Lehrelemente nach der Pandemie bleiben, als Ergänzung und Anreicherung der Präsenzlehre.

Es besteht aber auch weitgehende Einigkeit darüber, dass eine rein digitale Lehre auf Dauer nicht funktionieren kann. Weil es doch immer wieder technische Probleme gibt. Weil einige Fächer auf Laborpraktika und Exkursionen angewiesen sind - Präsenzveranstaltungen, die im Wintersemester zum Teil ganz ausfallen mussten, wie die CHE-Befragung ergab. Und weil das Studium in allen Fächern davon lebt, dass Menschen zusammenkommen, diskutieren, Gedanken und Argumente austauschen.

An der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hatten Studierende zumindest in den ersten vier Wochen des Wintersemesters die Möglichkeit dazu. Einige Kurse, wenn auch wenige, hätten in den Räumen der Universität stattgefunden, erzählt Katja Ruete, 23, die an der JMU Englisch und Geschichte auf Gymnasiallehramt studiert. In den Hörsälen hätten alle Masken getragen, an jedem Sitzplatz habe es einen Abstand im Radius von eineinhalb Metern und einen QR-Code zur Registrierung gegeben. Für sie schien das Hygienekonzept aufzugehen: "Ich glaube, jeder hat sich da sicher gefühlt."

Trotzdem verkündete Ministerpräsident Markus Söder ( CSU) Ende November, dass der Präsenzunterricht an bayerischen Universitäten zum 1. Dezember wieder ausgesetzt werde. Ruete und ihre Kommiliton:innen wollten das nicht einfach so hinnehmen. Sie formulierten einen vierseitigen Brief an Söder, in dem sie ihre Nöte schilderten: die Unmöglichkeit, in Zoom-Calls produktiv zu diskutieren; die Schwierigkeiten, sich rein remote auf Staatsexamen oder Sportprüfungen vorzubereiten; die WG-Zimmer, die zum Lernen viel zu klein sind.

Am 2. Dezember unterschrieben Ruete und elf Mitstudierende den Brief und schickten ihn an die Bayerische Staatskanzlei, zu Händen Markus Söder, mit Bitte um Antwort. Gehört haben sie seitdem: nichts. "Natürlich haben wir nicht erwartet, dass da sofort was zurückkommt", sagt Ruete. Doch dass sie monatelang überhaupt keine Antwort erhielten, nicht mal einen Textbaustein - das habe die Gruppe dann doch schockiert. "Man möchte nicht mal verschleiern, dass es offensichtlich egal ist, was mit uns passiert." Auf eine SPIEGEL-Anfrage, was mit dem Brief geschehen sei, meldete sich die Staatskanzlei nicht zurück.

Studierende fühlen sich "verhöhnt"

In der Zwischenzeit habe sich an der Situation in Würzburg nichts verbessert, sagt Ruete. Im Februar teilte die Universität mit, dass auch das kommende Sommersemester "überwiegend digital" stattfinden werde; lediglich Laborpraktika und praktische Übungen sollen in Präsenzform abgehalten werden.

Ruete und ihre Mitstreiterinnen stört auch, wie die Universität diese Ankündigung verpackte. Der digitale Unterricht sei "auf bunte Weise lebendig und bereite Studierenden wie Lehrenden Spaß", heißt es in der Mitteilung. Ruete: "Für uns liest sich das wie Hohn."

"Verhöhnt" fühlten sich auch Studierende in Baden-Württemberg nach einer Aussage von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Bei einem virtuellen Treffen mit Studierenden aus Heidelberg Anfang März sagte der: "Vergleichen Sie Ihre Situation mit der anderer Menschen. Dann werden Sie sehen, dass es keinen Grund dafür gibt, depressiv zu werden." Auf Twitter empörten sich Dutzende - über die Verharmlosung von psychischen Erkrankungen und die Geringschätzung gegenüber der Situation von Studierenden.

Von Lehrenden kommt Unterstützung

Man müsse aufhören, die Ängste und Sorgen der Studierenden als Leiden auf hohem Niveau abzutun, sagt auch Christine Buchholz, Professorin für BWL an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. "Ich sage nicht, dass es nicht richtig ist, die Universitäten zu schließen. Aber wir müssen darüber reden, was das bedeutet."

Gewinnen würden gerade nur wenige - die intrinsisch Motivierten, Gewissenhaften und Privilegierten, sagt Buchholz, privilegiert hinsichtlich technischer Ausstattung, elterlichem Support, finanzieller Sicherheit. "Die anderen verlieren den Anschluss, ihre Bildungschancen und so gesellschaftliche Teilhabe. Das ist sozialer Sprengstoff!​"

Auch die Berliner Initiative "Nicht Nur Online" bekommt Rückendeckung von Lehrenden. Bei der Veranstaltung am Montag spricht Roberto Lo Presti, der an der Humboldt-Universität Altphilologie unterrichtet und sein Büro im Hauptgebäude hat. Die Folgen der dauerhaften Beschränkungen seien deutlich spürbar, sagt er. "Auf den ersten Blick kommen die Studierenden mit dem digitalen Studium zurecht, aber ich erlebe eine Traurigkeit und Frustration, die ich in elf Jahren Lehrerfahrung nie gesehen habe."

Hoffen auf die nächste Ministerpräsidentenkonferenz

Ministerpräsident Kretschmann zumindest beschloss nach dem Gespräch mit den Heidelberger Studierenden, Präsenzveranstaltungen für Erstsemester zu ermöglichen und Unibibliotheken wieder als Lernorte zu öffnen. Auch in der Zentralbibliothek der Universität Würzburg gibt es seit Neuestem eine kleine Anzahl von Arbeitsplätzen, die für drei Stunden gebucht werden können.

Ob daraus bald ein richtiger Plan für die Hochschulen wird? Studierende und Lehrende hoffen jetzt auf die nächste Gesprächsrunde zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsident:innen der Länder am Montag. Hochschulen müssten in den Szenarien für das weitere Vorgehen in der Coronakrise unbedingt mitgedacht werden, verlangt auch die Hochschulrektorenkonferenz.

In der Zwischenzeit basteln einige Hochschulen an einer eigenen Teststrategie, verschieben Studierende wie Katja Ruete aus Würzburg ihre Prüfungen. In Berlin kündigte Bürgermeister Michael Müller ( SPD) Gespräche über mögliche Öffnungsperspektiven für die Berliner Hochschulen an; die Initiative "Nicht Nur Online" fordert, mitreden zu dürfen.

Das Hauptgebäude der Humboldt-Universität wurde am Ende für 87 Euro und zwei Flaschen Club Mate an einen der teilnehmenden Studenten versteigert. So viel ist Hochschulbildung offenbar gerade wert.

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