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Das Sterben im Mittelmeer kennt keinen Lockdown

In diesem Jahr sind bereits mehr als 730 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken. (Foto: picture alliance/dpa/Sea-Watch.org)

Die zivile Seenotrettung im Mittelmeer wird durch die Pandemie erschwert. Fast alle Schiffe der Hilfsorganisationen sind zudem weiterhin festgesetzt und auf EU-Ebene bleiben zentrale Fragen zur Asylreform ungeklärt. Doch die Menschen, die versuchen aus Libyen zu fliehen, machen trotz Corona keine Pause.

Auf dem Mittelmeer hat der Winter begonnen: Es wird früh dunkel, die Nächte sind lang, die See ist rau. Alles außerhalb der Scheinwerfer von Schiffen und Beibooten ist tiefschwarz. Fällt ein Mensch in das kalte Wasser, verschluckt ihn die Dunkelheit binnen Sekunden. Diese Monate gehören auf dem Mittelmeer zu den gefährlichsten im Jahr, warnen die Seenotretter von SOS Méditerranée.

Trotz dieser Umstände ist aktuell kaum eines der zivilen Rettungsschiffe im Einsatz, um Geflüchtete vor dem Ertrinken zu retten, die nach wie vor versuchen, in überfüllten Schlauch- oder Holzbooten von Libyen aus über das zentrale Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Wie mehrere andere Schiffe war die "Ocean Viking" von SOS Méditerranée seit Monaten von den italienischen Behörden festgesetzt. Kurz vor Weihnachten wurde das Schiff nach einer erneuten Prüfung im Hafen von Augusta auf Sizilien freigelassen und wird nach einer vorgeschriebenen Quarantäne in Marseille Anfang Januar den Rettungseinsatz wieder aufnehmen.

"Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, während Menschen auf dem Mittelmeer dem Ertrinken überlassen waren", sagt David Starke, Geschäftsführer von SOS Méditerranée Deutschland. "Wir sind sehr erleichtert, nun wieder in See stechen und den Rettungseinsatz wieder aufnehmen zu können. Hunderte Menschen sind in den vergangenen Monaten im Mittelmeer ertrunken, von denen wir und andere blockierte Seenotrettungsorganisationen viele hätten retten können."

Fünf Schiffe von zivilen Seenotrettungsorganisationen können aufgrund von Festsetzungen durch Behörden weiterhin nicht im Einsatz sein. Viele der Hilfsorganisationen werfen den zuständigen Behörden Schikane vor, die Schiffe mit vorgeschobenen Argumenten am Auslaufen zu hindern, etwa wegen vermeintlicher administrativer Vergehen oder durch langwierige Eignungsverfahren.

Wie groß die Not noch immer ist, macht die Zahl der Toten deutlich. Mehr als 740 Menschen ertranken seit Beginn des Jahres auf der Route durch das zentrale Mittelmeer oder gelten als vermisst, schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM). Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Allein im November waren mehr als 100 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer in den Fluten umgekommen.

Pandemie macht Route noch gefährlicher

Vor wenigen Wochen veröffentlichte die spanische Hilfsorganisation Open Arms ein Video einer besonders dramatischen Rettung, das viele schockierte. In dem Clip sieht man eine junge Mutter aus Guinea, die zwischen Libyen und Italien gerettet wurde. Auf dem Rettungsboot bangt sie um ihren sechs Monate alten Sohn Joseph, der ihr während der Operation aus den Armen geglitten ist: "Where is my baby? I lose my baby!", schreit sie immer wieder. Was man nicht sieht: Kurz darauf finden die Helfer den völlig erschöpften Säugling. Wenig später stirbt er an Herzstillstand, noch bevor der Rettungshubschrauber an Bord eintrifft. "Manchmal hat man das Gefühl, es muss erst etwas Furchtbares passieren, damit die Aufmerksamkeit wieder größer wird", sagt Julia Schaefermeyer, die an Bord der "Ocean Viking" unter anderem die grausamen Erlebnisse der Geflüchteten dokumentiert, die sie mitunter in den libyschen Internierungslagern machen mussten.

Dabei hat die Corona-Pandemie die humanitäre Lage im Mittelmeer verschärft. Die Seenotrettung ist durch die Covid-19-Maßnahmen zeitweise fast vollständig zum Erliegen gekommen - Quarantäneregeln und Hygienemaßnahmen erschweren und verlängern die Einsätze deutlich. Laut einer Analyse des Institute for International Political Studies (ISPI) hat sich die Gefahr, auf der Flucht über das Meer zu sterben, während der Pandemie fast verdoppelt: von 1,0 Prozent vor der Pandemie auf 1,8 Prozent.

Während die zivilen Rettungsorganisationen mit aller Macht versuchen, trotz der Situation ins Einsatzgebiet zurückzukehren, tut sich auf europäischer Ebene wenig. Durch die Aussetzung der Malta-Vereinbarung vom September 2019 zur Verteilung von Geretteten wurde Italien mit den über das Mittelmeer flüchtenden Menschen weiterhin allein gelassen - auch in Spanien und auf den Kanaren kommen immer mehr Schutzsuchende an.

EU-Staaten bei Asylreform weitestgehend uneins

Auch unter der deutschen Ratspräsidentschaft haben die EU-Staaten Schlüsselelemente der Asylreform nicht entscheidend voranbringen können. Bundesinnenminister Horst Seehofer verfehlte somit sein Ziel, einen Durchbruch bei dem seit Jahren blockierten Vorhaben zu erzielen. Die strittige Frage der Verteilung schutzsuchender Migranten in Europa etwa bleibt ungelöst. Es gebe unterschiedliche Auffassungen, wie "im Konkreten Solidarität zwischen den europäischen Mitgliedstaaten vonstattengehen soll", wenn ein Land überlastet sei, sagte der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums, Stephan Mayer, am Rande einer Videokonferenz der EU-Innenminister Mitte Dezember. Mehr als 35.000 Geflüchtete sind nach Angaben der IOM in diesem Jahr über das zentrale Mittelmeer nach Europa gekommen - darunter immer mehr unbegleitete Minderjährige.

Was die Situation der Rettungsorganisationen betrifft, hält sich Deutschland momentan weitestgehend bedeckt. Zwar sei Seenotrettung humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung und dürfe nicht behindert werden, heißt es dazu aus dem Auswärtigen Amt. Außenminister Heiko Maas habe im Oktober im Bundestag bei der Befragung der Bundesregierung die Kriminalisierung der Seenotrettung klar zurückgewiesen. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen Italiens obliege jedoch den unabhängigen italienischen Gerichten. "Die Politik macht es sich zu leicht, wenn sie sich auf die Bereitschaft und die Arbeit der Zivilgesellschaft verlässt, obwohl es doch ein politisches und humanitäres Problem ist, das ganz Europa angeht", sagt Julia Schaefermeyer dazu.

Ausbildung libyscher Küstenwache pausiert

Ein weiteres Problem: Obwohl die Seenotrettungsorganisationen von der katastrophalen Arbeit der libyschen Küstenwache berichten, die die Flüchtlinge auf ihren Booten abfangen und zurück in das Bürgerkriegsland bringen soll, hält die EU weiterhin an der Unterstützung fest. Knapp 12.000 Geflüchtete wurden in diesem Jahr bereits von Libyens Küstenwache an der Überfahrt gehindert.

Die Ausbildungsmaßnahmen der EU sollen sie befähigen, Seenotrettungen professionell und unter Einhaltung des Völkerrechts durchzuführen und Schleppernetzwerken das Handwerk zu legen. Aktuell ruhen diese Ausbildungsmaßnahmen jedoch pandemiebedingt, heißt es aus dem Auswärtigen Amt.

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