Ein Hauch von Vaudeville vergangener Zeiten durchweht diese Installation des iranischen Künstlerkollektivs.
Klack, Klack, Klack klappern die Schuhabsätze durch den White Cube. Die eiserne Regel, in der Kunstausstellung nichts zu berühren, wird hier gleich definitorisch kassiert. Wer sich dem Werk von Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian nähern möchte, der muss darauf herumlaufen.
Das führt im besten Sinne nicht nur dazu, dass sich alle Besuchenden ob der Geräusche, die sie auf den lackierten MDF-Platten von sich geben, ungeachtet ihres tatsächlichen Schuhwerks ein bisschen wie auf Stilettos fühlen dürfen (passend dazu sind auf dem Bodengemälde in oldschool-Camp-Manier einige haarige Unterschenkel nebst Füßen in High Heels versteckt). Es bewirkt außerdem eine merkwürdige Form der Immersion: Wo der Blick auf die Kunst horizontal geschult ist, muss man hier ständig unter die eigenen Füße blicken, um einen Blick auf das Ensemble zu enthalten, das als flache Ebene über der gesamten Ausstellungsfläche im Ganzen nicht erfasst werden kann. Stattdessen ausschnittsweises Erblicken von kegelförmigen Figuren und Tieren und Mensch-Tier-Chimären, einer Eselrunde vor Laptops, Händen vorm Smartphone, die aus dem Dunkel eines Shamseh-förmigen, mal vergitterten, mal mit einem Magritte-artigen Himmeldekor versehenen Fensters nach draußen greifen, dazwischen Schachbrettmuster und persisch anmutende Ornamente und ein grotesk deplatzierter Anus in einer Art Unterwasser- oder Sumpflandschaft. Ein analog-vertikales Eintauchen, in dem man die Arbeit des iranischen Künstler-Trios traumwandlerisch stets um sich weiß, ohne ihr je habhaft zu werden (was übrigens auch die Künstler selbst so erlebt haben dürften, als sie in einer riesigen Fabrikhalle und der eigenen Erzählung nach wie Derwische in Trance, als regelrechte Mal-Medien, gemeinschaftlich ihr riesiges Bodengemälde fertigten).
„O You People!“ bildet das Herzstück der ersten Einzelausstellung von Hearizadeh, Haerizadeh und Rahmanian in Deutschland. Wie die meisten der hier präsentierten Arbeiten haben die Künstler das auf den Boden erstreckte Tafelbild extra für die Schau in der Frankfurter Schirn Kunsthalle angefertigt, zu der sie schließlich coronabedingt gar nicht selbst anreisen konnten. Seit 2009 lebt und arbeitet die beiden Brüder und Hesam Rahmanian als Kollektiv in Dubai, wo sie dem Vernehmen nach ein zauberhaftes Eldorado für und mit der Kunst, auch der von Kolleginnen und Kollegen, bewohnen. Nicht ganz freiwillig ist dieses Bohemia im Mittleren Osten entstanden: Während sich das Trio gerade auf einer Ausstellung in Paris befand, wurden die Räume eines Sammlers in Teheran durchsucht, der auch Arbeiten von der Künstler besaß.
Freunde warnten, dass es nicht sicher sei, zurückzukehren. Ihr Quasi-Exil fanden die Künstler schließlich in den Vereinigten Arabischen Emiraten, von wo aus sie heute Ausstellungen in der ganzen Welt vorbereiten. Als Kollektiv, oft auch in Kollaboration mit anderen – die Stoffbehänge der Eselskulpturen beispielsweise stammen aus dem Hamburger Atelier von Hoda Tawakol. Gemeinsam mit besagtem Bodengemälde, zahlreichen Videoarbeiten, einem großformatigen Wandgedicht, Skulpturen und Found Footage-Bildmaterial ergeben sie nun die begehbare Installation mit dem schön popreferentiellen Titel "EITHER HE'S DEAD OR MY WATCH HAS STOPPED" GROUCHO MARX (WHILE GETTING THE PATIENT'S PULSE).
Und tatsächlich durchweht ein Hauch von Vaudeville, von albern-anarchischem Witz vergangener Zeiten diese Ausstellung, die an manchen Stellen tonnenschwer das gesamte Leid der global empfindenden Welt versammelt, von Beirut bis Norditalien, von Amerika bis Irak-Iran, um im nächsten Augenblick ein Konvolut aus Karneval und Cabarét, aus Teufelsfratzen und freundlichen Fabelwesen aus dem Hut zu zaubern. Dazu klingt ein kakophonischer Soundtrack, der sich aus dem Klackern der Publikumsschuhe, dem Gesang von Lonnie Holley, Musiker und Outsider Art-Berserker aus Alabama, mit dem das Künstlerkollektiv 2014 in einem selbstgebauten Set vor der Kamera stand, und dröhnender persischer Tanzmusik zusammensetzt. Letztere stammt aus der Videoarbeit „Dancing After The Revolution“, für die heimlich aufgenommene Tanzszenen aus privaten Wohnräumen zusammengeschnitten wurden – eine nach der Islamischen Revolution verbotene, aber unter Iranerinnen und Iranern durchaus beliebte Praxis, deren Aufnahmen zum Beispiel über Videokassetten ausgetauscht und verbreitet wurden, wie die Künstler in ihrer Arbeit erklären. Sie rekurriert obendrein auf Mohammad Khordadian, der Exil-Iranern mit einer Mischung aus persischem Volks- und orientalischem Bauchtanz sowie amerikanischer Aerobic eine Art nostalgische Fantasie-Heimat vermittelte und damit in den USA der 1980er Jahre höchst erfolgreich war. Geschichten wie diese werden wie beiläufig eingestreut, als kleinste Sinneinheiten, die gleichwohl sich nicht überall auftun müssen.
Erstaunlich mühelos fügen sich die einzelnen Arbeiten zu einer Schau, deren Dimensionen von den Künstlern vor Ort weder ausprobiert noch eigenhändig nachjustiert werden konnten. Und klar ist die Installation auch Anschauung darüber, wie der Ausstellungsbetrieb dank WhatsApp und Zoom Ländergrenzen und Pandemiegesetze überwinden und dabei mit Anstrengung und künstlerischer Vorstellungskraft durchaus passabel weiter funktionieren kann. Doch was für Dinge gilt, gilt bekanntlich nicht zwangsläufig für Menschen; gerade in Corona-Zeiten zeigt sich, wie die oft zur globalen Klasse gezählten Künstlerinnen und Künstler keineswegs alle dieselben Reise- und sonstigen Freiheiten genießen und dass je nach Staatsbürgerschaft doch zumindest einige Unsicherheiten bestehen, ob und wie man wohin wird zurückkehren können.
Wo das Kollektiv nun selbst nicht präsent sein kann, da ist es der Esel, der als Spirit Animal durch die Installation führt. Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian zeigen den arbeitsamen Underdog, dessen purer Anblick manch einen Menschen schon von seinem seelischen Leid geheilt haben soll, hier nun immer wieder mit weit aufgerissenem Maul, einer Ansicht, von der man nie ganz sicher bleibt, ob sie nach gelangweiltem Gähnen, großem Gelächter oder leidvollem Aufschrei ausschaut. Der Welt zeigt das Künstlertrio sein sardonisches Lächeln, nach außen scharf, dem Menschen aber stets zugewandt. Wer weiß: Vielleicht kann man sich ja tatsächlich noch über die Zustände erheben, indem man sich eine Weile einfach buchstäblich daraufstellt.
Bis 13. Dezember, Kunsthalle Schirn, Katalog 15 € (vor Ort).
Gekürzte, editierte Version in der tageszeitung.
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