In den besten Momenten treffen Instinkt und Intellekt zusammen. Dann lässt sich nicht sicher festlegen, ob der Mensch hinter der Kamera einfach Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Oder ob das Motiv das Ergebnis trickreicher Komposition und Planung darstellt. Wie hoch ist beispielsweise schon die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Moment drei Menschen in dottergelber Beinbekleidung ins Bild laufen, ganz so, als handele es sich um eine zeitversetzte Mehrfachbelichtung?
Erstaunlich ist auch die Komposition dieses Bildes: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite warten Geschäftsmänner in ihren Anzügen, Kleidungsgrau auf Bürgersteiggrau. Erst der zweite Blick fällt auf die ungewöhnliche Einrahmung: Links und rechts im maximal unscharfen Anschnitt blickt je eine Frau über ihre Schulter und direkt in die Kamera der Fotografin. Und noch etwas ist ungewöhnlich: Das Bild stammt aus dem Jahr 1959 - einer Zeit, in der Farbfilme und -dias selten von Privatleuten gekauft und entwickelt wurden.
Vivian Maier ist die Fotografin dieses Motivs, eine Frau, die privat fotografierte und ihr Leben lang unentdeckt blieb, bis sie 2009 plötzlich posthum berühmt wurde. Der Immobilienmakler und heutige Fotograf John Maloof hatte Tausende Negative erstanden, die aus der bis dato unbekannten Nanny aus Chicago aus dem Stand eine gefeierte Fotografin machten. Maiers Geschichte als modernes Märchen, das viele Sehnsüchte bedient: Von der Amateurkünstlerin zur Persönlichkeit, die nun in einem Atemzug mit den ganz großen Namen der Street Photography genannt wurde.
So nah!
Nach zwei Bildbänden mit Schwarz-Weiß-Fotografien erscheint nun erstmalig eine Auswahl an Bildern, die Maier auf Diafilm aufgenommen hatte. Die brillanten Farben verleihen ihren Motiven eine noch unmittelbarere Wirkung. Rund 150 wurden ausgewählt, Szenen wie die obigen aus New York oder Chicago, ergänzt um Texte von Fotografie-Kritiker Colin Westerbeck und Street-Photography-Legende Joel Meyerowitz.
Auch in Farbe ist Maier ihren Protagonisten oft so nah, dass man sich als Betrachter fragen muss, wie sie das gemacht hat, etwa wenn sie eine Gruppe männlicher Brillenträger direkt von unten, wie aus der Hocke heraus eingefangen hat. Es gibt Dutzende Momente, in denen ihre Figuren ganz bei sich sind und nicht bei der Kamera, die da gerade in ihre Privatsphäre eindringt. Die wichtigste Lektion auf dem Weg zur Street-Photography-Profession: unsichtbar werden. Joel Meyerowitz erkennt Maiers Geheimnis in den vielen Selbstporträts, auf denen sie in Überwachungsspiegeln und Schaufensterscheiben erscheint. "Sie ist das Mauerblümchen, die ledige Tante, die biedere Großstadttouristin - ...nur... sie ist es eben nicht!" So deutet er ihre Biografie konsequent um: Zur Fotografin, die sich als professionelles Kindermädchen tarnte.
Unter den wenigen Hundert Farbdias finden sich zwischenmenschliche Beobachtungen wie Stillleben, die Maier mit instinktiver Sicherheit ablichtet. Mal kann sie ihr Faible für humorvolle Kompositionen auskosten, mal handelt es sich offenbar eher um Schnappschüsse. Die Bilder, meint Meyerowitz unverblümt, hätten ihn anfangs nicht vom Hocker gerissen. Auch heute glaubt er, dass die Schwarz-Weiß-Fotografie Maiers eigentliches Medium gewesen sei. Es habe einige Durchgänge gebraucht, um aus der unsortierten Sammlung eine eigene Auswahl zu treffen: Erst dann konnte er Maiers Qualität als "frühe Poetin der Farbfotografie" wertschätzen lernen.
Wenn also nicht jedes Motiv die wahnsinnigen Erwartungen erfüllt, die viele nach den ersten Maier-Bildbänden entwickelt haben dürften, so muss man diesen Hintergrund mitdenken: Nichts von dem, was hier zu sehen ist, hat die Fotografin selbst ausgewählt. Alles entspringt einigen wenigen Ektachromerollen; einem damals sehr kostspieligen Rohmaterial. Westerbeck legt sogar nahe, dass die Fotografin die Diakästchen nicht einmal geöffnet haben könnte, um sich die Bilder auch nur anzuschauen.
Selektion, Proben und Versuchsanordnungen, trial and error: All diese Mechanismen bestimmen erst, welche Bilder aus dem Studio, Atelier oder der Dunkelkammer an die Öffentlichkeit gelangen und so das Bild von Künstlerin und Werk formen. "Photographieren bedeutet Editieren", wie Colin Westerbeck Fotolegende Walker Evans in seinem Vorwort zitiert. Maiers Fotos benötigen keine Rechtfertigung, aber: Wenn man all dies mitdenkt, die hier vorliegenden Motive als gerade mal künstlerische Versuchsanordnungen betrachtet, ergebnisoffen, dann sind diese "Farbphotographien" schon mehr als unwahrscheinlich gut.