Ein spektakulärer Uni-Bau oder ein kleines Privathaus: Yvonne Farrell und Shelley McNamara möchten mit ihrer Architektur positiv beeinflussen. Ein Interview über lebenswerte Stadträume.
Als Kuratorinnen für die Architektur-Biennale in Venedig haben Sie ein Manifest formuliert, das ausspricht, was in der Theorie eigentlich selbstverständlich ist, in der Praxis aber kaum: Dass jeder das Recht hat, von Architektur zu profitieren....
Farrell: Seit 2008 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, und über die nächsten Jahrzehnte werden es noch mehr werden. Was gebaut wird, wird uns alle betreffen. Und zwar so sehr, dass Architektur in Wahrheit eine komplett neue Geografie der Umstände und Dinge darstellt. Wir müssen darüber nachdenken, was hier als "Außenhaut" des Menschseins gebaut wird. Jedes Gebäude hat Einfluss auf uns. Architektur geschieht nicht im Vakuum. Sie wird beauftragt. Mit jedem Projekt haben Kunden und Architekten die Möglichkeit, etwas zu schaffen, was ein Geschenk für die Gesellschaft sein kann.
SPIEGEL ONLINE: Um diese Idee zu illustrieren, haben Sie das Motto "Freespace" erfunden. Was meinen Sie damit?
McNamara: Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Komplexität von Architektur aufzuschlüsseln - so zu erklären, dass die Öffentlichkeit Teil des kreativen Prozesses sein kann. Dafür braucht sie die Worte, um ihre Bedürfnisse zu formulieren, damit die Kräfte des Kommerz' ausgeglichen werden durch andere Kräfte, die der Kultur.
Farrell: Wir verwenden das Wort "Freespace", um ein Wort zu haben für das, worauf die Öffentlichkeit bei neuen Projekten achten sollte. Es geht gerade um das, was noch nicht bestimmt ist. Vielleicht könnte sie in Zukunft verlangen, vom "Freespace" zu erfahren: Wie könnte das "Freespace-Geschenk" für uns aussehen? Es könnte beispielsweise eine Frage der Planungskommission sein, die mit jeder Bewerbung um ein Bauprojekt beantwortet werden muss.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben einmal erzählt, wie der "Flying Circus", eine Gruppe politisch radikaler Architekten aus London, Ihre Auffassung von Architektur formte. Wie werden aus Überzeugungen konkrete Gebäude?
Farrell: Stimmt, der "Flying Circus" war für unsere Bildung enorm wichtig. Sie konnten Architektur kommunizieren - und ihre Leidenschaft für Architektur war ansteckend. Architektonisch geprägt hat uns vor allem Le Corbusier. Wir hatten nächtelange Diskussionen über das Individuum und das Kollektiv. In einem Beispiel erzählte Le Corbusier über das Zisterzienserkloster in Ema, wo jeder Mönch sein eigenes, unabhängiges Haus-Hof-Set besaß. Jahre später, als wir eine Grundschule hier in Irland gestalteten, griffen wir dieses Beispiel wieder auf, indem wir jedes einzelne Klassenzimmer zu einem unabhängigen "Haus und Hof" machten, eingebettet in das Kollektiv der gesamten Schule.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben es eingangs selbst angesprochen: Städte werden als Lebensmittelpunkt in den kommenden Jahren noch wichtiger. Welche Bauwerke im öffentlichen Raum finden Sie gelungen?
McNamara: Mit ihrer wundervollen Komplexität bereichern Städte unser Leben. Es ist spannend zu beobachten, welche Rollen Institutionen dabei spielen. Trinity College beispielsweise befindet sich mitten im Herzen von Dublin. Ein eingezäunter Campus zwar, auf dem die Tore allerdings selten geschlossen sind. So können Studierende und Bürger ganz normal hindurch spazieren und die kleinen Innenhöfe und Gärten genießen. Für uns das perfekte Beispiel, wie Integration und geteilter Lebensraum in einer zeitgemäßen Stadt funktionieren kann. Definiert, aber durchlässig..., ein Vergnügen für Studierende, Stadtbewohner und Besucher gleichermaßen.
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst sind bekannt dafür, mitten in den öffentlichen Raum hinein zu bauen. Manchmal bleibt Ihnen hierfür nur sehr begrenzte Grundfläche. Wie schaffen Sie es, Ihren Gebäuden trotzdem diesen Anstrich von Großzügigkeit zu verleihen?
McNamara: ...Beziehungen zu schaffen zwischen dem, was vorhanden ist, und den Menschen, die den Ort nutzen - das gehört zur erfinderischen Arbeit von Architekten. Licht spielt eine große Rolle.
SPIEGEL ONLINE: Und was sagen die Menschen, die in den von Ihnen konzipierten Bibliotheken, Schulen, Universitäten ein- und ausgehen? Bekommen Sie manchmal Rückmeldung?
McNamara: Ja, wenn auch nicht immer auf direktem Weg: Wir bauten einmal eine neue Sporthalle und einen neuen Abschnitt mit Klassenräumen für eine Schule in Dublin. Die Direktoren erzählten uns, dass die Anzahl der Schüler, die sich für ein Architekturstudium entschieden, rapide in die Höhe geschnellt sei - was ihrem Empfinden nach ein direktes Resultat dieser neuen Situation war: Architekten als Menschen zu sehen, die den Bauprozess permanent begleiten. Vielleicht denken viele Menschen, dass Gebäude einfach "passieren", plötzlich voll ausgeformt dort stehen, ohne die enorme Energie, die es braucht, um sie zu konzipieren und fertigzustellen.
Farrell: 2002 hatten wir eine Ausschreibung für ein neues Gebäude der Bocconi Universität in Mailand gewonnen, nach der Fertigstellung 2008 öffnete die Uni ihre Türen für die Bürger der Stadt. Es war eine wahnsinnige Ehre für uns, die gigantische Anzahl an Menschen zu sehen, die diese neue Ergänzung ihrer Stadt entdecken wollten. Wann immer wir beispielsweise an Open House-Veranstaltungen teilnehmen, bestätigt sich unser Eindruck: Die Menschen sind neugierig auf Architektur!Ein spektakulärer Uni-Bau oder ein kleines Privathaus: Yvonne Farrell und Shelley McNamara möchten mit ihrer Architektur positiv beeinflussen. Ein Interview über lebenswerte Stadträume.
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