Sebastian Herkner weiß noch gut, wie der Weg in sein neues Leben aussah: "Ich fuhr gerade über die Brücke in die Stadt hinein, da begrüßte mich dieses Schild: Offenbach, Deutsche Wetter- und Lederstadt" Diese merkwürdige Kombination, sie ist dem Produktdesigner als symbolträchtiger Moment in Erinnerung geblieben. Mit dem Wetter hat er weniger zu tun, für Handwerk und dessen Tradition kann er sich hingegen sehr begeistern. Wie passend, dass Herkners Studio nur einen Katzensprung vom Deutschen Ledermuseum - auch das eine Reminiszenz an die lange Handwerksgeschichte der Stadt - entfernt liegt.
Sebastian Herkner hat es in weniger als einem Jahrzehnt auf die Liste der bekanntesten deutschen Industriedesigner geschafft: Er gestaltet Möbel, Lampen, Schalen, Vasen, Teppiche, aber auch Gebrauchsgegenstände wie Wanduhren oder die "GastRolle", eine Art Staffelstab für die Ehrenmesse der Frankfurter Buchmesse. Spätestens, seit er im Jahr 2011 mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde, klingt sein Name auf den einschlägigen Möbelmessen von Köln bis Mailand und weit darüber hinaus in die Welt.
Herkners Heimat aber liegt seit 16 Jahren eben hier, in Offenbach: Anfangs wohnte und arbeitete in seinem geweißelten Studio. Inzwischen wird hier nur noch gearbeitet, mittlerweile mit einem Team von vier festen Mitarbeitern. Wenn er nicht in Offenbach ist, ist er unterwegs. Der 37-Jährige ist viel unterwegs, zweimal musste er das Treffen absagen, einmal war er in Indonesien, um neue Prototypen anzuschauen. Zwischendurch fliegt er zu Vorträgen in Bukarest oder Bangalore, leitet Design-Workshops in Zimbabwe oder reist durch China. Nicht nur seine Produkte, auch sein Wissen ist gefragt.
Was auf Reisen sein Interesse weckt, findet sich später im Studio wieder: Eine Kollektion Klebstoff-Flaschen aus Asien oder die Besensammlung mit Exemplaren aus aller Welt, die es schon auf einige Pressefotos geschafft hat. Herkner arrangiert seine Fundstücke gern in Grüppchen. In Kisten und Kästen lagern Stoffmuster und bunte Glasscheiben, Materialproben für seine Entwürfe. Gepflegte Sammelsurien, kein cleanes Laboratorium, doch hat alles seinen Platz.
Sein weicher, süddeutsch gefärbter Dialekt verrät noch die Herkunft, aus der Herkner vor anderthalb Jahrzehnten aufgebrochen ist: Aufgewachsen in einem kleinen Dorf bei Bad Mergentheim, schrieb er sich 2001 an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung ein und war dort "so glücklich wie noch niemals zuvor". Der Ort, an dem Freie und Angewandte Künste beide ihren Platz haben, bot dem jungen Designer den nötigen Raum für das Finden einer eigenen Haltung: "Es gibt dort keine Schulsprache wie zum Beispiel an der Design Academy Eindhoven. Stattdessen große Freiheiten, die Möglichkeit, interdisziplinär zu arbeiten, einen eigenen Typ zu entwickeln."
Herkners Möbel behaupten sich im Raum
Und sein Typ war gefragt: Kurz nach Studienabschluss kaufte ein Unternehmer die Idee für den Bell Table, Herkners Aushängeschild. Wie alles innovative Design stellt der Beistelltisch Gewohntes in Frage, verändert es, bringt es in einen neuen Zusammenhang. Herkner drehte das gängige Konzept einer transparenten Oberfläche auf einem massiven Sockel einfach auf den Kopf: auf einem leichten Glasfuß lagert eine schwere Kupferplatte. Für diese Idee gab es 2010 den Red Dot Design Award. Ein Jahr später erhielt Sebastian Herkner den Preis als bester Newcomer.
Mit ihrer Zeitlosigkeit treffen Herkners Entwürfe den Nerv einer wachsenden Anhängerschaft. Wohl auch, weil sich seine Möbel im Raum behaupten: Die extravaganten Pipe-Möbel mit ihren glänzenden Rohren und den flauschigen Lehnen, der Pastille-Tisch mit seinen überlappenden Glasflächen, die das Licht bunt brechen, die Rosenthal-Vasen, für die er Porzellan regelrecht falten ließ.
Herkner glaubt ans Material. Ein Praktikum bei Stella McCartney führte ihn kurzzeitig in die Welt der Mode. Eine Vorliebe für opulente Stoffe und leuchtende Farben hatte er vorher schon. Sie gehören fest zu seinem Repertoire als Mode-, Möbel- oder Industriedesigner. Aber auch die Verarbeitung muss stimmen: Wenn er Handwerker und ihre Werkstätten besuchen kann, dann ist der Designer in seinem Element: "Hier duftet es nach Holz, dort steht die Luft bei 40 Grad in der Glasbläserei."
Mit dem Mythos des jungen Design-Genies, das manchmal von ihm gezeichnet wurde, kann Herkner nichts anfangen. Sein Erfolg beruht auf Talent und einer grundbescheidenen Haltung, verbunden mit einem gewissen betriebswirtschaftlichen Geschick: Sein erstes Geld investierte er erst einmal in einen neuen Rechner, alle Einnahmen flossen ins Studio zurück. Er ist ein wacher Geist, die grundsätzliche Neugier sein Kapital.
Man könnte sich stundenlang mit ihm unterhalten - über den Gewinneinbruch bei H&M und falsche Sparsamkeit (problematisch), die deutsche Vorsicht gegenüber Innovationen, dass die Eltern endlich ein eigenes Smartphone haben (findet er gut). Über den Spagat menschlicher Bedürfnisse zwischen virtueller Auflösung und fassbarer Gegenwelt. Da ist man wieder bei seinen Entwürfen angelangt, deren Erfolg er auch auf die menschliche Sehnsucht nach Greifbarem zurückführt, wieder fort vom Ultra-Minimalismus.
Respekt für andere Menschen und ihr Können
Auch über Architektur kann er vortrefflich diskutieren: Wie fürchterlich öde die neuen Straßenzüge mit ihren Luxus-Eigentumswohnungen bundesweit ausschauen, "das sind Kisten mit Fenstern drin." Zur Internationalen Möbelmesse in Köln durfte Herkner 2016 seine Vision von einem (zumindest temporären) Haus realisieren, das alle Sinne anspricht: Mit Essen für alle Besucher und duftenden Kacheln, die er in der inzwischen abgerissenen Seifenfabrik gegenüber seiner Werkstatt anfertigen ließ. Alles fließt in Herkners Arbeiten ein, er möchte kein Kreativer im Vakuum sein.
Respekt für andere Menschen und ihr Können, Vertrauen und Verantwortung sind Begriffe, die Herkner oft und gerne verwendet. Für den Hersteller Ames durfte er eine komplette Produktlinie entwickeln, "ohne jegliche Idee, nur mit weißem Blatt und Papier" fuhr er durch Kolumbien. Und sammelte erst einmal Eindrücke: Von Farben und Gerüchen, vom wahnsinnigen Klima mit seiner tropischen Schwüle und den kühlen Höhenlagen, dem Handwerk und den Bewohnern des südamerikanischen Landes.
"Danach köchelt es erstmal im Kopf", beschreibt Herkner den Weg einer Idee in die reale Welt. Alles danach sei ein stetiger Dialog: zwischen ihm und seinem Team, seinen eigenen Vorstellungen und den tatsächlichen Möglichkeiten, seinem Studio und dem Hersteller. Am Ende steht dann zum Beispiel ein Stuhl wie das neue Modell 118 für Thonet. Herkner verpasste dem Kaffeehaus-Klassiker eine knallig blaue Lackierung und neue Beine. Die Lehne, das war dem Produktdesigner wichtig, sollte aus langlebigem Massivholz sein.
Wenn er ein Aushängeschild habe, meint Sebastian Herkner, dann sei es kein starrer Stil, sondern am ehesten vielleicht diese Haltung: Seine Produkte sollten in die Welt hinauswirken. Als langlebiger Wohngegenstand bei ihren künftigen Besitzern, aber auch schon davor, bis in die einzelnen Produktionsprozesse hinein - manchmal, wie in diesem Fall, durch die Wiederbelebung eines traditionellen Handwerks und sogar neu geschaffene Arbeitsplätze.
Seit seiner Reise nach Kolumbien gibt es dort eine Kunsthandwerkstatt für Möbelflechter. Dort finden junge Leute aus den Favelas eine Arbeit - und die traditionellen Handwerkstechniken eine ganz neue Aufwertung, wenn sie plötzlich auf der anderen Hälfte der Erdkugel in Designmagazinen beworben werden.