Weit mehr als eine Million Hongkonger Bürger war am vergangenen Sonntag auf der Straße. Stundenlang hatten sie die Verkehrswege rund um den überfüllten Victoria Park verstopft, um friedlich gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz und die Polizeigewalt der vergangenen Wochen zu demonstrieren. Glaubt man dagegen chinesischen Medien, war diese Menschenmasse eine von ausländischen Geheimdiensten angestiftete Geheimdienstaktion, eine Ansammlung von jungen Randalierern oder gar kakerlakenähnlichem Ungeziefer.
Was hier so abstrus klingt, ist in Wahrheit ein Auswuchs im Kampf um Deutungshoheit. Sowohl Regierung in Peking als auch die Hongkonger Demonstrierenden wissen, dass sie die öffentliche Meinung auf ihrer Seite brauchen. Die Kommunistische Partei (KP) Chinas hat hierfür ihre gut geölte Propagandamaschine auf Hongkong gerichtet - und verfügt dafür in westlichen sozialen Medien offenbar über eine ganze Armee von Konten. Die Demonstrierenden versuchen dem seit Beginn der Proteste ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit entgegenzusetzen.
Die Proteste in begannen bereits am 9. Juni, doch in den ersten Wochen wurden in China Berichte und Diskussionen über die Bewegung noch konsequent zensiert. Nachdem aber Demonstrierende am 1. Juli den Hongkonger Legislativrat stürmten und Graffiti an den Wänden hinterließen, schlug das Narrativ in China um: Die Bilder waren eine perfekte Gelegenheit für Kritik an den Demonstranten. Chinesische Medien begannen, über Hongkong zu berichten - jedoch nie über die Gründe für die Proteste. Stattdessen werden die Demonstrierenden als gewalttätige Schläger dargestellt, begleitet von Bildern, die Graffiti oder eingeschlagene Fenster zeigen.
Ungefragt in der TimelineDazu gibt es die immer gleichen Geschichten über die Demonstrierenden: Sie seien eine von westlichen Regierungen organisierte und finanzierte Revolution gegen die chinesische Regierung. Die Demonstrierenden seien gewaltsam und irrational. Die Proteste seien ein direkter Angriff auf die chinesische Identität und Souveränität, da die Demonstrierenden nicht anerkannten, dass sie zu China gehören.
Auch offizielle Staatsmedien und Regierungsinstitutionen haben diese Argumente übernommen: Die chinesische Regierung hat die Demonstrierenden offiziell als Terroristen bezeichnet und auch das höchste Parteiblatt der KP, die Volkszeitung, beschuldigte die Demonstrierenden, von "ausländischen, antichinesischen Kräften" kontrolliert zu werden.
Diese Argumente werden in chinesischen und westlichen sozialen Medien munter weiterverbreitet und bebildert - von Staatsmedien, von Accounts, die möglicherweise von der chinesischen Regierung betrieben werden, und von ganz normalen chinesischen Nutzerinnen und Nutzern. Sie posten Bilder, in denen Kakerlaken die charakteristischen gelben Helme der Protestbewegung tragen, oder stellen Bilder der Demonstrierenden denen islamistischer Terrororganisationen gegenüber, mit der Frage: "Wo ist der Unterschied?"
Gleichzeitig posten sie immer wieder über die Gewalt der Demonstrierenden und behaupten zum Beispiel, sie würden mit einem Raketenwerfer die Hongkonger Polizei attackieren, wenn auf dem Foto eigentlich eine Spielzeugwaffe zu sehen ist. Auf Twitter sind viele dieser Inhalte auf Englisch, manche sind sogar als bezahlte Anzeigen geschaltet und werden so Nutzerinnen und Nutzern aus aller Welt ungefragt in ihrer Timeline angezeigt.