Sie dringt in verlassene Gebäude ein
und sucht nach vergessenen Geschichten. Über eine Dortmunderin, ihre
Leidenschaft „Urban Exploring“ - und warum sie dafür Strafen in Kauf
nimmt.
Was andere kaum bemerkt hätten, sieht Emma (alle Namen geändert) sofort. Ein Grundstück direkt am Feld ist zugewuchert. Es ist lange her, dass die Büsche am Zaun geschnitten worden sind. Hinter den Wipfeln dicht gewachsener Tannen steht ein Backsteinhaus. Kaum einer beachtet es. Außer Emma. Denn das Gelände ist verlassen. Es ist ein „Lost Place".
Verlassene Orte faszinieren Emma. Mit 14 war sie zum ersten Mal an einem „Lost Place", einer leerstehenden Zeche. Heute ist die Dortmunderin 29, und Ausflüge an Orte, die die Natur schleichend zurückerobert, sind ihre Leidenschaft. Fabriken, in denen die Maschinen stillstehen, Schwimmbäder mit trockenen Becken und Villen mit Gärten wie verwunschene Parks.
Emma sucht Lost Places mit
ihren Freunden
Mit ihren Freunden sucht Emma diese Orte, fotografiert sie, teilt sie anonym auf ihrer Facebook-Seite. „Ich halte mich an einen Verhaltenskodex: Es wird nichts hinterlassen außer Fußabdrücken und nichts mitgenommen außer Fotografien und Erinnerungen“, sagt sie.
Es ist 19 Uhr. Emma und ihr
Freund Jens, der am Steuer sitzt,
sind heute etwas außerhalb von
Dortmund unterwegs – zu einem
„Lost Place“. Die beiden parken an
einer Schnellstraße, die zwischen
Feldern hindurchführt.
Fehlende Mülltonnen sind ein
Signal für verlassene Häuser
Hundert Meter entfernt steht ein
einsames Wohnhaus. Mit der Zeit
hat Emma einen Blick dafür entwickelt, wo ein „Lost Place“ auf sie
wartet. Ist ein Ort grüner als gewöhnlich, ist das ein erster Hinweis. Stehen vor dem Haus keine
Mülltonnen, fast ein sicheres Zeichen. Denn Mülltonnen werden abgeholt, sobald niemand mehr für
sie zahlt.
Das Grundstück zu betreten, ist eine Herausforderung – niemand darf Emma und Jens beobachten. Dass sie sich mit ihrem Hobby strafbar macht, weiß Emma. Betritt sie ein Grundstück, das ihr nicht gehört, begeht sie Hausfriedensbruch. Angezeigt wurde die junge Frau noch nie, sagt sie. Vorsichtig ist sie trotzdem.
Ein Trampelpfad führt zu einem
verwilderten Garten
Vor vier Jahren hat Emma ihr Interesse zum Hobby gemacht. Ein
Freund hatte Fotos leerstehender
Gebäude auf Facebook hochgeladen. Emma fragte, ob sie ihn auf
seinen Entdeckungstouren begleiten könne. Ein bis zwei Mal im Monat schauen sie seitdem nach Lost
Places.
Entdeckungen dokumentieren
sie bei „Lost Places Dortmund“
Ihre Entdeckungen dokumentieren
sie auf der Facebook-Seite „Lost
Places Dortmund +“. Rund 16.600
Nutzer haben die Seite geteilt. „Es
kamen immer mehr Nachrichten
von Leuten bei uns an, die auch dabei sein wollten“, erzählt sie.
Emma schätzt es, mit Gleichgesinnten die Adressen spannender Orte auszutauschen.
Auch im Fall des Hauses in einer Stadt im nördlichen Ruhrgebiet, vor dem Emma jetzt steht. Dornenhecken und Efeu ranken an den Backsteinwänden hinauf. Da, wo vor Jahren eine Terrassentür war, ist nur noch ein schwarzes Loch zu sehen.
Die einzigen Farbtupfer in dem
schattigen Trauerspiel sind ein
paar Rosenblätter, die an den Hecken baumeln, und eine umgekippte Sitzbank, von der Farbe abplatzt.
Glücklicherweise ist das Grundstück einsam gelegen. So können
Jens und Emma ausnahmsweise
ohne Sorgen Taschenlampen benutzen, als sie das düstere Wohnhaus betreten.
Das Gebäude gehört einem
Kraftwerksbetreiber
Viel wissen die beiden nicht darüber, wer hier gegessen, wer hier gelacht und wer hier gelebt hat. Aber sie wissen, wieso es leer steht. „Das Gelände gehört, wie auch mehrere Bauernhöfe in der Umgebung, dem Betreiber eines Kraftwerks“, weiß Emma.
Das Kraftwerk mit seinen gigantischen Schornsteinen wurde vor
Jahren nur ein paar Hundert Meter
weiter aus dem Boden gestampft.
Die Betreiber waren damals gezwungen, die Höfe in der Nähe aufzukaufen. Seitdem stehen sie leer
und verfallen. Die Familien, die
hier ihre Existenzen aufgebaut hatten, sind längst weg.
» Es kamen immer mehr Nachrichten von Leuten bei uns an, die auch dabei sein wollten. «
Emma (29, Name geändert)
Der Lost Place ist in einem schlechten Zustand
Das Wohnhaus ist in einem schlechten Zustand. Der Teppich- boden im Wohnzimmer war früher bestimmt einmal cremefarben. Heute sieht er gräulich aus und verschluckt jeden Schritt, den Emma und Jens auf ihm gehen. In der Küche wurden die Holzschränke zertrümmert.
Am Boden liegen zerrissene
Kochbücher. Modrige Luft steht in
den Räumen. Neben einer hölzernen Zimmertür hängt ein Schild
aus braunem Ton an der Wand.
Charlotte steht darauf und darunter ein Geburtsdatum aus dem Jahr
1973. Was Charlotte wohl gerade
macht? Ob sie weiß, wie es in ihrem ehemaligen Kinderzimmer
heute aussieht?
Betreiber der Lost-Places-Seiten
machen keine Ortsangaben
Emma tut es weh, ein ehemaliges Zuhause in diesem Zustand zu sehen. Um Zerstörung nicht zu begünstigen, haben sie und die meisten anderen Betreiber von Lost-Places-Seiten sich dazu entschieden, keine Ortsangaben zu ihren Entdeckungen zu machen. Adressen tauscht Emma nur mit Menschen, die sie gut kennt. Hier ist es jedoch zu spät.
Emma versteht unter einem „Lost
Place“ einen Ort, der langsam verfällt, an dem Staubschichten die
Möbel überziehen und an dessen
Wänden die Farbe abblättert.
Wenn diese Orte zerstört werden,
verlieren sie für Emma ihren
Charme. Sie möchte Orte sehen,
die noch eingerichtet sind, wo sie
in die Schränke schauen und Geschichten entdecken kann – wie eine Schatzsucherin.
Wohnhäuser sind die schönsten
„Lost Places“
Daher sind Wohnhäuser die schönsten „Lost Places“ für Emma. Das Allergrößte ist für sie jedoch, die erste vor Ort zu sein. Vor ein paar Monaten haben sie und Jens einen verlassenen Gutshof gefunden. Der war tatsächlich noch voller Schätze wie Gemälden, Fahrrädern und alten Bauernmöbeln.
Solche Gebäude können über Jahre in Vergessenheit geraten, weil die zuständigen Städte keine genaue Kenntnis darüber haben, wie viele Häuser leerstehen oder verwahrlosen. Die Besitzer melden den Leerstand nicht immer. Und „die Städte greifen erst ein, wenn Gefahr von den Grundstücken ausgeht. Wie viele Gebäude genau verfallen oder verlassen sind, lässt sich nicht sagen, das wird nicht aufgezeichnet“, sagt eine Dortmunder Stadtsprecherin.
Gefahren können immer lauern
In einem Lost Place können in jedem Fall Gefahren lauern. Neben Charlottes ehemaligem Kinderzimmer ist eine Tür zugezogen. Es ist die erste geschlossene Tür, die Emma und Jens in diesem Haus begegnet. Emma öffnet sie vorsichtig und leuchtet mit ihrer Taschenlampe hinein.
Plötzlich schreckt sie zurück. Vor ihr hat sich jemand ein Lager aus Decken gebaut. Daneben liegt eine Jeans, ein Pullover, frische Zwiebeln und eine Paprika. Emma holt tief Luft. „Hallo, wir kommen in guter Absicht!“, ruft sie in den Raum – eine Vorsichtsmaßnahme. Sie hat Glück, es ist niemand hier.
Einmal ist sie in einer mittlerweile abgerissenen Fabrik in Derne auf das Lager eines Obdachlosen gestoßen. Dort stand ein Tisch mit Spritzen und einer Axt. „Die Axt habe ich mitgenommen und woanders in der Fabrik abgelegt. Ich hatte echt Angst, der Besitzer könnte, vielleicht vollgepumpt mit Drogen, in der Nähe sein und mich verfolgen“, sagt Emma.
Für heute kehren Emma und Jens um. Sie haben genug gesehen. Schöner wäre es gewesen, wenn sie ein unberührtes Haus gefunden hätten. Doch auch das gehört zu dem abenteuerlichen Hobby dazu. Schon bald werden die beiden wieder aufbrechen – immer auf der Suche nach einem unentdeckten Lost Place.
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