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Südwesten ist das Land der Weltmarktführer

Ravensburg (geu) -  Bundesstraße 30, irgendwo zwischen Ulm und Ravensburg. Hinter einem Lastwagen drängeln sich mehrere Autos, die nicht überholen können. Langsam zieht die oberschwäbische Landschaft an den Autofahrern vorbei. Am Ortseingang von Bad Waldsee tauchen rechts imposante Produktionshallen auf: Hymer, einer der weltweit führenden Hersteller von Wohnmobilen, hat in dem Kurort seinen Hauptsitz. Biegt man kurz hinter dem Städtchen nach rechts Richtung Aulendorf ab, liegt nach zehn Kilometern auf der linken Seite das Firmengelände von Carthago, Deutschlands bekanntester Hersteller von Wohnmobilen im Premiumsegment.

Hymer oder Carthago, der Mischkonzern Liebherr mit seinen in ganz Oberschwaben verstreuten Werken, die Medizintechnikfirma Aesculap in Tuttlingen, der Automobilzulieferer Handtmann in Biberach oder die Papierfabrik Palm in Aalen - im Südwesten finden sich in vielen oft kleinen und unscheinbaren Orten Unternehmen von Weltruf. Neben den bekannten Namen gibt es unzählige unbekannte Firmen, die Arbeitsplätze bieten. Sie bilden das Rückgrat der deutschen und vor allem der baden-württembergischen Wirtschaft. In anderen Bundesländern, wie Niedersachsen, Hessen oder Brandenburg, sieht das anders aus. Während in Baden-Württemberg gefühlt jedes Dorf seinen erfolgreichen Mittelständler hat, finden sich in Norddeutschland vor allem riesige Landwirtschaftsbetriebe, Ostdeutschland leidet unter dem mit der Wende einhergegangenen Strukturwandel, und im Ruhrgebiet hat der Mittelstand noch immer nicht die unter gegangene Großindustrie ersetzt.

Im Südwesten dagegen prägt der Mittelstand die Wirtschaft: Laut statistischem Landesamt finden sich in Baden-Württemberg rund 491000 mittelständische Unternehmen. Die Statistiker zählen dazu Unternehmen mit bis zu 249 Mitarbeitern. 99 Prozent aller baden-württembergischen Firmen sind dieser Klasse zuzuordnen. Deutschland schaut deshalb oft neidisch nach Baden-Württemberg.

Armut als Ausgangspunkt

Dabei ist die Stärke des Mittelstandes im Südwesten kein Zufall, sondern sie hat historische Ursachen: Dazu zählen die große Armut der ländlichen Bevölkerung in Baden und Württemberg vor der industriellen Revolution, eine besondere Wirtschaftsförderung, die erfolgreiche Weiterentwicklung und der Export von Produkten sowie die Mentalität der Baden-Württemberger und ihrer Unternehmer. Das sagen zumindest Experten wie die Wirtschaftshistoriker Gert Kollmer-von Oheimb-Loup und Hermann Simon oder der Leiter des Ravensburger Wirtschaftsmuseums Christian von der Heydt.

Baden-Württemberg um 1800: Die Bevölkerung auf dem Land, ob im Schwarzwald oder auf der Alb, kämpft mit schlechten Böden, widrigen Wetterbedingungen und schlechten Ernten. Die Felder sind zu klein, um damit eine Familie zu ernähren. Der Grund liegt nicht zuletzt im Erbrecht, das im Südwesten im Gegensatz zu anderen Regionen in Deutschland vorherrscht: Weil das Erbe immer zu gleichen Teilen aufgeteilt wird, werden die Felder immer kleiner. Die Bauern sind gezwungen, sich neben der Landwirtschaft noch etwas hinzuzuverdienen. All das fällt in die frühe Phase der Industrialisierung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Baden-Württemberg Einzug hält.

„Wenn ein Unternehmer investieren will, ist die Frage: Wo tut er das? Wo gibt es Wasserkraft zur Energiegewinnung, und wo gibt es Arbeitskräfte?", sagt Kollmer-von Oheimb-Loup. Beides fand sich in Baden-Württemberg vor allem im ländlichen Raum ausreichend: Und so begannen die Bauern, in den neuen Industriebetrieben zu arbeiten, die reiche Händler oder gut bezahlte Beamte aufbauten. Zu den wichtigsten Industrien in der Zeit gehörten Textilfirmen und Webereien.

So gründeten beispielsweise der Züricher Architekt und Politiker Hans Caspar Escher 1859 eine Niederlassung ihrer Textilfirma in Ravensburg. Begonnen hatte der Unternehmer mit einer mechanischen Spinnerei in der Schweiz. Nun wollte er die dafür nötigen Wasserkraftanlagen selbst herstellen und produzierte daher als Maschinenbauer in Ravensburg vor allem Wasserturbinen und Papiermaschinen. „Das war der Ausgangspunkt für die Industrialisierung der Region Ravensburg", erläutert Museumschef Christian von der Heydt. Das Nachfolgeunternehmen Andritz Hydro sitzt noch heute in Ravensburg.

Geförderte Industrialisierung

Einer, der die Ansiedelung von Escher in Oberschwaben damals maßgeblich vorantrieb, war laut von der Heydt der Ravensburger Bürgermeister Franz von Zwerger. Dieser tat noch mehr für die frühe Industriealisierung rund um Ravensburg. So gründete er beispielsweise die erste Oberamtskasse der Region, Vorläufer der heutigen Sparkasse. So wollte er die Vergabe von Krediten an kleine Unternehmer vereinfachen. Eine frühe Wirtschaftsförderung.

Wirtschaftsförderer wie Zwerger gab es damals auch in anderen Landesteilen. In Württemberg zum Beispiel Ferdinand von Steinbeis, in Baden Heinrich Meidinger. „Dabei ging es vor allem um psychologische und moralische, also ideelle Unterstützung", sagt Kollmer-von Oheimb-Loup. Steinbeis schuf die sogenannte Zentralstelle für Handel und Gewerbe in Stuttgart, Meidinger eine vergleichbare Einrichtung in Karlsruhe. Dort wurden die neuesten Errungenschaften der industriellen Revolution ausgestellt. Zudem organisierten sie Messebesuche für Unternehmer, beispielsweise zu den Weltausstellungen, oder förderten die Vernetzung der Unternehmer. „Mit Hilfe dieser Einrichtungen konnte das ganze Land auf die Schiene der Industrialisierung gehoben werden", sagt Kollmer-von Oheimb-Loup. Außerhalb des heutigen Baden-Württembergs fanden sich laut Kollmer-von Oheimb-Loup, der neben seiner Professur an der Universität Hohenheim seit 1983 auch das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg leitet, nur in Preußen und Sachsen ähnliche Einrichtungen.

Die Textilindustrie blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein eine der wichtigsten Industrien des Südwestens. Es siedelten sich immer mehr Handwerker rund um die Textilfabriken an, um die Maschinen zu reparieren und zu warten. Im Laufe der Zeit entwickelten sie sich weiter und begannen eigene Produkte herzustellen. Ein Beispiel dafür ist die Firma Waldner aus Wangen im Allgäu. Seit dem Gründungsjahr 1908 stellte die Flaschnerei Waldner verschiedene Gegenstände aus Metall her. Ein Melkeimer, der nicht wie üblich rund, sondern ovalförmig geformt war, gehörte zu den Erfolgsprodukten der Firma. Später stellte Waldner Möbel für Milchlabore her. Inzwischen ist aus Waldner ein sogenannter „Hidden Champion" geworden: Das Unternehmen ist heute Weltmarktführer bei der Herstellung von Schullaboren und liefert seine standardisierten Labormöbel in alle Welt.

Hidden Champions, unbekannte Weltmarktführer wie Waldner, gibt es in Baden-Württemberg heute in Bezug auf die Bevölkerungszahl so viele wie in keinem anderen Flächen-Bundesland, sagt Hidden-Champion-Experte Hermann Simon. Von den von Simon in Deutschland erfassten rund 1300 sogenannten unbekannten Weltmarktführern kommen 290 aus Baden-Württemberg, 45 Prozent davon haben ihren Hauptsitz im ländlichen Raum. Ihren Erfolg verdanken sie einer hohen Spezialisierung ihrer Produkte und dem erfolgreichen Export. Auch dieser ist historisch bedingt: „Das Königreich Württemberg war eingegrenzt zum Beispiel vom Königreich Bayern, von der Schweiz und von Baden. Die Unternehmer dort mussten sich also früh schon internationalisieren, um überhaupt einen ausreichend großen Markt für ihre Produkte zu haben", sagt Simon.

Hinzu komme der besondere Ruf der Unternehmer im Südwesten. „In Württemberg genießt der Mittelstand besonders hohen Respekt", erläutert Simon. „Unternehmer, die aus dem Mittelstand kommen, sind hoch angesehen. Das ist anders als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, wo es seit jeher eine großindustrielle Struktur gibt." Und eher die großen Industriekapitäne in der Öffentllichkeit stehen.

Bodenständig und angesehen

Für den Ravensburger Museumschef von der Heydt gründet sich dieser Respekt nicht zuletzt auf eine sehr professionelle Zurückhaltung des Unternehmertums im Südwesten. „Die Unternehmer sind hoch angesehen, weil sie bodenständig sind und ihren Wohlstand nicht zur Schau tragen", sagt von der Heydt. Und: „Man denkt langfristig und wirtschaftet anders, als wenn man nur auf schnellen Profit aus ist."

Die Zurückhaltung bei Tox Pressotechnik ist so professionell wie auf den ersten Blick fehl am Platze: Schließlich hat der Maschinenbauer aus Weingarten die Pressen-Technik, die bei Daimler, BMW oder VW Nieten in Autoteile hämmert und Blechteile zurechtbiegt, revolutioniert. In der Regel hat jeder von Daimler gebaute Mercedes einige Teile, die die von Unternehmensgründer Eugen Rapp erfundenen Pressen geformt haben. Das Weingartener Unternehmen hat unter anderem Niederlassungen in China, Indien und Brasilien und macht rund 150 Millionen Euro Umsatz. Seinen Hauptsitz hat das Unternehmen in einer oberschwäbischen Kleinstadt, fernab von den großen Industriezentren der Welt. Was für andere Regionen außergewöhnlich sein mag, ist in Baden-Württemberg die Regel.

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