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Reportage spécial

Der unorthodoxe Volkstheologe

Wie Papst Franziskus hat die Menschen im Windeseile für sich eingenommen Sie ist schwarz, abgegriffen und unscheinbar. Aber die lederne Aktentasche ist wieder einer dieser kleinen Gegenstände, mit denen er Großes sagen möchte, mit denen er Wirkung erzeugen will: Papst Franziskus, Meister des Details.

Natürlich trägt er die Tasche selbst, auch auf seiner ersten Auslandsreise zum Weltjugendtag nach Rio de Janerio. Den Berichterstattern, die ihn begleiten, entgeht sie nicht. Als er auf dem Rückflug spontan eine Pressekonferenz gibt, ist deshalb auch sein Handgepäck Thema. Die Schlüssel für die Atombombe seien nicht drin, scherzt Franziskus. Stattdessen: „Ein Rasierer, das Brevier (ein Buch mit Stundengebeten), mein Kalender, ein Buch zum Lesen, ich habe eines über die Heilige Thérèse mitgenommen, die ich verehre. Ich habe diese Tasche immer auf Reisen dabeigehabt, das ist normal.“ Der Papst macht eine kurze Pause. „Wir müssen normal sein.“

Papst Franziskus sucht Normalität und findet Konfrontation mit Traditionalisten


Damit meint Franziskus vor allem den Klerus und die Kurie, den Verwaltungsapparat des Vatikans. Normalität sucht man hier seit einiger Zeit vergeblich. Erstmals in der Neuzeit ist ein Papst zurückgetreten, Benedikt XVI. war schon lange nicht mehr Herr im eigenen Haus. Er ließ sich auf einen Streit mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft ein. Nicht nur Pädophilie-Skandale erschütterten die Kirche, sondern auch die Vatileaks-Affäre um gestohlene Geheimdokumente und den untreu gewordenen Papst-Butler Paolo Gabriele, Gerüchte um eine Homosexuellen-Lobby im Vatikan, Geldwäsche in der Vatikanbank. Von ihrer Aufgabe, der Verkündigung des Evangeliums, wirkte die Kirche Lichtjahre entfernt. Zeitweise glich der Vatikan einem zwielichtigen Unternehmen, in dem jeder machte, was er wollte.

Seit Franziskus im Amt ist, sind die meisten dieser Probleme nicht verschwunden. Aber sie erscheinen jetzt in einem anderen Licht. Wer spricht noch von Vatileaks? Wohin haben sich die von der italienischen Presse „Raben“ getauften, anonymen Informanten verkrochen, die der Presse Geheimakten zusteckten?

Vom Außenseiter zum Hirten von 1,2 Milliarden


Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri, der erste Papst aus Lateinamerika, er kommt „vom Ende der Welt“, wie er selbst am Abend seiner Wahl sagte. Er hat das Kunststück fertiggebracht, Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken zu sein und doch wie ein Außenstehender aufzutreten. Die schwarze Aktentasche, die Franziskus wie ein Rechnungsprüfer im Namen Gottes mit sich herumträgt, ist Symbol für diesen neuen Pragmatismus.

Seit die Kardinäle am 13. März Jorge Mario Bergoglio zum Papst wählten, verspüren immer mehr Menschen „Frühlingsgefühle“, wenn sie an den Papst und die Kirche denken. So formuliert es ein einflussreicher katholischer Funktionär in Rom. Enttäuschte Gläubige beschreiben ein Gefühl von Aufbruch. Sie hoffen auf einen Wandel und dass die Kirche nicht mehr wegen ihrer Skandale wahrgenommen wird. Sie soll das befördern, was sie am Christentum schätzen: den Glauben an eine höhere Macht, Werte, Gnade und Vergebung, Hilfe für Schwächere, Nächstenliebe.
Kurienmitarbeiter, die sich bis vor kurzem für die Verhältnisse in Rom rechtfertigen mussten, bekommen in ihrer Heimat nun Komplimente für ihren sympathischen Chef, weil der jugendlichen Straftätern die Füße wäscht und als Erstes die Müllmänner und das Toilettenpersonal zu seinen Frühmessen im Gästehaus Santa Marta einlädt. „Ich bin richtig stolz auf den Papst“, sagt ein Monsignore im Vatikan.

Viele, die sich für erklärte Gegner eines als reaktionär und weltfremd empfundenen Katholizismus hielten, ertappen sich beim Sympathisieren mit dem Stellvertreter Christi. Franziskus hat der Kirche ein menschliches Antlitz verpasst.
Fest steht: Mit keiner Imagekampagne hätte die katholische Kirche mehr Zuspruch gewinnen können als mit der Wahl des 76 Jahre alten Argentiniers Jorge Mario Bergoglio zum Papst. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demopolis zufolge haben 85 Prozent der Italiener Vertrauen zu Franziskus, unter Katholiken sind es sogar 96 Prozent. Aber auch 65 Prozent der Nichtkatholiken und Bekenntnislosen fühlen sich zu Franziskus hingezogen.

Papst Franziskus- nicht gegen Homosexualität, sondern Lobbyismus


Auf seiner ersten Fahrt innerhalb Italiens besuchte der Papst die süditalienische Insel Lampedusa. Hier warnte er vor der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Wer habe um die Frauen und Kinder geweint, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Meer ertranken?, fragte der Papst und löste damit auch außerhalb der katholischen Welt Nachdenklichkeit aus. Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer hatten die meisten vergessen.
Und er sagt Sätze wie: „Wenn jemand schwul ist und den Herrn sucht und dabei guten Willen beweist, wer bin ich, dass ich über ihn richte?“ Das war auf dem Rückflug aus Rio, seiner ersten Auslandsreise. Man hatte ihn nach der Homosexuellen-Lobby im Vatikan und Monsignore Battista Ricca gefragt. Nachdem Franziskus den Priester zum Prälaten der Vatikanbank ernannt hatte, wurden Vorwürfe laut, der Geistliche habe während seiner Zeit als päpstlicher Diplomat in Uruguay seine Homosexualität ausgelebt. Franziskus hätte Ricca wieder absetzen können, aber er sagte: Nicht die homosexuelle Tendenz sei das Problem, sondern Lobbyismus. „Der Katechismus sagt, diese Personen sollen nicht diskriminiert, sondern akzeptiert werden.“
Franziskus verkörpert eine aus Rom bislang unbekannte Milde. Er setzt auf Integration, nicht auf Konfrontation. Das macht ihn für Katholiken liebenswert und für Skeptiker akzeptabel. Klug umschifft er bislang umstrittene Themen wie Zölibat, Frauenweihe oder Abtreibung, in denen die katholische Doktrin wenig Spielraum lässt.
Am Ende der Pressekonferenz im Flugzeug brandet Applaus unter den Journalisten auf. Es gelingt ihnen nicht, Franziskus emotional auf Distanz zu halten. Berichterstatter, die auf der ersten Auslandsreise des Papstes in Brasilien dabei waren, berichten über Kollegen, die schon auf dem Hinflug zu Tränen gerührt waren, als Franziskus jeden einzelnen persönlich begrüßte. Er hat Witz, Charme, wirkt milde. Er wickelt sie alle um den Finger.

Der Fischer auf Menschenfang

Einmal pro Woche, jeden Mittwoch bei der Generalaudienz, geht der Fischer Franziskus ganz gezielt auf Menschenfang. „Er scharrt beim Frühstück schon mit den Füßen, wann er endlich in dem Papamobil über den Petersplatz fahren darf.“ So scherzt man in der Kurie über die Lust dieses Papstes am Bad in der Menge. Bei seinem schüchternen, oft unbeholfen wirkenden Vorgänger Benedikt wirkten die Audienzen wie eine Pflichtübung. Inzwischen ist der Petersplatz regelmäßig mit 100 000 Menschen überfüllt, manchmal reicht die Schlange der Pilger und Neugierigen hinunter bis zum Tiber. So viel prompten Zuspruch hatte nicht einmal Johannes Paul II.
Überpünktlich fährt Franziskus auf dem Platz vor. Ein Jubelsturm bricht los. Die meisten sehen den Papst zunächst nur auf den Videoleinwänden.

Nach ein paar Minuten ist seine weiße Silhouette auch in der Ferne zu erkennen. Erhaben gleitet der Oberhirte durch eine Gischt von gezückten Smartphones. Er wirkt glücklich. Franziskus strahlt die vielen ekstatischen Gesichter an. Manchmal bleibt sein Blick länger an einem Augenpaar haften. Es wirkt, als wollte der Papst ein Zwiegespräch beginnen. Dann lässt Franziskus anhalten, er steigt aus, küsst Kinder und Behinderte. Erwachsene Frauen kreischen wie Teenager, Männer wischen sich Tränen aus den Augen. Die Masse himmelt ihn an wie einen Messias.

In Rio de Janeiro blieb sein Kleinwagen in der begeisterten Menschenmenge stecken, sein Fahrer war falsch abgebogen, es war ein Albtraum für die Sicherheitsleute. „Sicherheit ist, den Menschen zu vertrauen“, sagte Franziskus später. Einen Sicherheitskordon zwischen Bischof und Volk zu ziehen, sei verrückt. „Ich bevorzuge diesen anderen Wahnsinn, die Nähe, die allen guttut.“

Wider den „Geruch ihrer Herde“


Es ist, als würde dieser Mann ein lange Zeit unbefriedigtes Bedürfnis stillen, das irgendwo zwischen Spiritualität und Personenkult liegt. Einer seiner engsten Vertrauten, der ebenfalls charismatische Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga aus Tegucigalpa, Honduras, sagt es so: „Von den ersten Tagen an bemüht sich Franziskus zu zeigen, dass er einer aus unserer Mitte ist, einer aus der Herde.“ Franziskus selbst ermahnt Priester und Bischöfe, sie sollten den „Geruch ihrer Herde“ verströmen und nicht wie Funktionäre auftreten.

Maradiaga, Präsident der Caritas und ein Gegenspieler des lange Zeit mächtigen und umstrittenen Kardinalstaatssekretärs Tarcisio Bertone, ist mit der Wahl Bergoglios zu einem der einflussreichsten Männer in der Kurie aufgestiegen. Ihn betraute der Papst mit der Koordinierung der acht Kardinäle, die ihn bei der Reform der Kurie beraten sollen. „Viele von uns waren sich einig, dass Papst Benedikt nicht gut über die Wirklichkeit informiert war, dass einige Dokumente ihn nicht erreichten“, berichtet Maradiaga über die Beratungen der Kardinäle vor dem Konklave.

Papst Franziskus misstraut den Verhältnissen in der Kurie

Franziskus beobachtet, informiert sich, führt Gespräche. Er hat drei Kommissionen eingesetzt. Die von Maradiaga geleitete Gruppe zur Reform der Kurie, eine Ermittlungskommission zur Vatikanbank und eine für mehr Transparenz in der Güterverwaltung.

Der Papst traut den Verhältnissen in der Kurie nicht. Das hat er mit der Öffentlichkeit gemeinsam. Anstatt das standesgemäße päpstliche Appartamento im Apostolischen Palast zu bewohnen, residiert er weiter im einfachen vatikanischen Gästehaus Santa Marta. Hier kann er selbst über seine Begegnungen entscheiden, ist nicht wie Benedikt dem Risiko der Isolation ausgesetzt und seinen Beratern ausgeliefert. Im Vatikan gebe es viele „Herrscher über den Papst“, soll Bergoglio seinem Freund und Ex-Schüler Jorge Milia gestanden haben. „Das Schwierigste sei gewesen zu verhindern, dass sie über seinen Terminkalender bestimmten.“ Der ruht nun sicher vor jeglicher Fernsteuerung in der schwarzen Aktentasche.

Doch hinter der Sympathie, die Franziskus für seinen erfrischenden Stil entgegenschlägt, verbergen sich auch Rätsel. Vor allem in den ersten Tagen seines Pontifikats kam der Papst auffällig häufig auf den Teufel zu sprechen. Benedikt hätte Kopfschütteln ausgelöst, wenn er wie Franziskus mit Léon Bloy behauptet hätte: „Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel.“
Später war die Rede davon, Franziskus habe nach einer Audienz einem Behinderten im Rollstuhl den Teufel ausgetrieben. Der Fernsehkanal der italienischen Bischofskonferenz hatte arglos die Nachricht verbreitet. Der Vatikan dementierte. Aber bei aller Begeisterung für Franziskus hat auch das gestrige Bild von Luzifer seinen festen Platz in diesem Pontifikat.

Manche Ansichten Bergoglios sorgten schon früher für Empörung. Als Erzbischof von Buenos Aires charakterisierte er die Befürworter von Homosexuellenrechten als eine „Bewegung, die vom Vater der Lüge ausgeht“. Die Homoehe bezeichnete er als einen „destruktiven Anspruch gegenüber dem Plan Gottes“.

Niemand spricht mehr über Bergoglios zwiespältige Rolle als Generaloberst der Jesuiten zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien. Bergoglio sei für die Glaubensgemeinschaft lange ein „schwarzes Schaf“ gewesen, weil er zwei Brüder, die später verschleppt wurden, nicht genügend vor der Verfolgung durch die Junta geschützt hätte. Das erzählen nicht linke Kirchenkritiker, sondern gut informierte und jeglicher Sabotage unverdächtige Jesuiten in Rom.

Der Franziskus-Hype sorgt für Überraschung

Vielleicht ist der bedingungslose Zuspruch auch einem oberflächlichen Blick geschuldet. In der Kurie reiben sich einige überrascht die Augen über den Franziskus-Hype. Es gibt traditionalistische Kritiker, die sich vor allem an der burschikosen Liturgie und am unkonventionellen Stil des Papstes stören. Ratzinger-Verehrer erheben den Vorwurf, Franziskus falle stark vom intellektuellen Niveau seines Vorgängers ab und lasse keine theologische Leitidee erkennen. Die Mehrheit der Kurialen blickt gespannt auf die kommenden Monate, wenn die ersten wegweisenden Entscheidungen von Franziskus zu erwarten sind. „Manche vermissen den intellektuellen Kick“, sagt ein Prälat. „Aber die normalen Leute wollen im Herzen angesprochen werden, und das kann er.“

Über seinen Vorgänger, den unverstandenen Denker Benedikt, der nun im Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten lebt, sagt Franziskus: „Er ist für mich wie der weise Großvater im eigenen Haus, wie ein Papa. Ich habe ihn lieb.“ Benedikt klagte in scharfen Gedanken den Relativismus an, den Verlust der Werte. Es waren Worte, bei denen auch ihr holpriger, manchmal schriller Ton auffiel. Franziskus wünscht in einem weichen, spanisch gefärbten Italienisch nach dem Angelusgebet am Sonntag: „Guten Appetit!“ Mit banalen Worten und einem sanften Ton hat er sich in weniger als sechs Monaten mehr Gehör verschafft als Benedikt in acht Jahren.

Ein Theologe des Volkes


Bergoglio ist stark beeinflusst von der lateinamerikanischen „Theologie des Volkes“, die 1968 in den Beschlüssen von Medellín Eingang fand. Die Kirche muss auf die Armen zugehen und kohärent sein, lautet eine ihrer Kernideen. Also setzte sich Bergoglio in Argentinien für sozial benachteiligte Menschen ein, verzichtete auf die großzügige erzbischöfliche Wohnung in Buenos Aires und nahm die U-Bahn statt den Wagen mit Chauffeur.
In Rom, auf Lampedusa oder in Rio de Janeiro lässt sich Franziskus in unauffälligen Autos kutschieren und nicht wie eine Ikone in einer schwarzen Limousine. So rauschte Benedikt XVI. durch Rom. Bergoglio akzeptiert nur die nötigsten Insignien päpstlicher Macht, sie sind ihm fremd. Die Mozetta, den roten Samtmantel, lehnt er ab. Statt roter Slipper trägt er schwarze Orthopädieschuhe. Unter der weißen Soutane scheint seine schwarze Hose durch. Auf der Brust trägt er ein einfaches Kreuz aus Blech.
Gerade zum Papst gewählt, bestand Franziskus darauf, eigenhändig die Rechnung im römischen Gästehaus zu bezahlen, das ihn während des Konklaves beherbergte.

Bergo­glio bleibt sich als Papst Franziskus treu


Für einen auf Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit bedachten lateinamerikanischen Bischof sind diese Gesten selbstverständlich. Für die an katholischen Prunk und Statussymbole gewöhnten Augen der Europäer wirken sie wie eine Revolution.
„Er ist wirklich so“, sagt der Kurienmitarbeiter José Ignacio Tola, der Bergo­glio noch aus der päpstlichen Kommission für Lateinamerika kennt. Weihbischof Eduardo García, ein früherer Kollege von Bergoglio aus Buenos Aires, sagt: „Was wir als ehemalige Mitarbeiter jetzt erleben, sind nicht einfach Wiederholungen, sondern Kohärenz, und das ist wichtig. Bergo­glio ist sich treu geblieben.“

Ob er als Bischof glücklich gewesen sei, wird der Papst auf der Pressekonferenz im Flugzeug gefragt. „Ja, sehr“, sagt Bergoglio. Und als Papst? Seine Begeisterung stockt ein wenig. „Ja“, sagt er. Franziskus macht bislang nicht den Eindruck, den Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Aber man merkt, dass das Amt auch auf ihm lastet, dass er sich eingeengt fühlt wie in einem Käfig. Er sagt: „Sie wissen ja gar nicht, wie gerne ich durch die Straßen von Rom laufen würde!“