5 abonnements et 4 abonnés
Article

Anschlag von Hanau: "Wir müssen gegen das Vergessen kämpfen"

Fotos: Thomas Pirot

Sechs Monate nach dem Attentat gedenken in Hanau Angehörige und Aktivisten der Toten. Sie sind wütend, weil sich nichts verändert: Der Rassismus in Deutschland wächst.


Am 19. Februar 2020 tötete ein 43-Jähriger im hessischen Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln, erschoss danach mutmaßlich seine Mutter und sich selbst. Sechs Monate später war in der 90.000-Einwohner-Stadt östlich von Frankfurt am Main eigentlich eine Gedenkdemonstration mit Tausenden Teilnehmern aus ganz Deutschland geplant. Wegen der aktuellen Corona-Lage sagten die örtlichen Behörden die Veranstaltung jedoch kurzfristig ab. Stattdessen kamen am Nachmittag etwa 250 Menschen zu einer Kundgebung in der Hanauer Innenstadt zusammen, darunter Angehörige der Opfer und Überlebende des Anschlags. ZEIT Campus ONLINE hat mit acht Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kundgebung gesprochen.


"Die Leute dürfen reisen, konsumieren, einkaufen - aber die Demo geht nicht?!"

"Es war schon krass und erschütternd für uns, als gestern die Info kam, dass die Demo wegen Corona abgesagt wird. So eine Enttäuschung, es steckt so viel Energie drin und wir haben wochenlang so viele Menschen mobilisiert. Irgendwie ist es aber bezeichnend: Die Leute dürfen reisen, konsumieren, einkaufen trotz Corona - aber die Demo geht nicht?! Gleichzeitig ist es auch schön zu sehen, dass die Leute sich nicht unterkriegen lassen, und was in kurzer Zeit möglich ist. Viele Veranstaltungen finden jetzt dezentral statt. Schön, diese Solidarität! Ich habe fast das Gefühl, dass die Anteilnahme durch die Absage noch größer geworden ist. Nun hoffen wir, dass wir mit unseren Forderungen nach lückenloser Aufklärung, angemessener Erinnerung, sozialer Gerechtigkeit und politischen Konsequenzen weiterkommen."


"Alle Menschen sind gleich"

"Ich fühle mit den Familien, ich leide mit ihnen - ein Freund von mir ist unter den Opfern. Zu Hause würde ich es heute nicht aushalten, ich muss hier dabei sein und klar gegen Rassismus aufstehen. Es hätte genauso auch mich oder andere treffen können. Alle Menschen sind gleich, egal ob schwarz oder weiß, das ist so wichtig und sollte so einfach sein! Jedes Kind muss das von klein auf lernen, das muss die Gesellschaft kapieren."


"Kein einziger Name darf vergessen werden"

"Freunde und Bekannte waren von dem Anschlag betroffen und ich bin hier, weil ich versuche, mich irgendwie nützlich zu machen. Wir sind gemeinsam aufgewachsen, jeder kennt hier jeden. In Deutschland muss gesehen werden: Rassismus ist ein aktuelles Thema, es brennt! Kein einziger Name der Opfer darf vergessen werden und die Politik muss restlos alles aufklären. Die Familien brauchen Gewissheit."


"Hanau muss sich ins kollektive Gedächtnis brennen"

"Ich habe gar nicht groß drüber nachgedacht, herzukommen. Ich finde es notwendig, hier ein Zeichen zu setzen. Es geht darum, Solidarität für die Opfer und die Angehörigen zu zeigen. Die Stimmen der Angehörigen müssen bundesweit Gehör finden. Ich will, dass niemals vergessen wird, was hier geschehen ist. Hanau muss sich ins kollektive Gedächtnis brennen - nicht als ein weiterer Ort in einer Auflistung zu rechtem Terror; sondern als ein Ort des Widerstands, der Solidarität und eines würdigen Gedenkens."


"Zeigen, dass die Angehörigen nicht alleine sind"

"Ich kannte die Opfer und kenne ihre Familien. Ich bin nicht direkt betroffen, aber umso wichtiger finde ich es, zu zeigen, dass die Angehörigen nicht alleine sind. Deshalb bin ich heute hier. Meine Eltern sind auch da. Seit dem Anschlag sind die Straßen in Kesselstadt (einer der Tatorte, Anm. d. Redaktion) merklich leerer - nicht nur wegen Corona. Viele haben auch Angst, wollen ihre Kinder nicht draußen spielen lassen. Ich hoffe und wünsche mir, dass möglichst bald alle offenen Fragen beantwortet werden und die Familien Aufklärung bekommen."


"Ich bin so wütend auf die gesamte Politik!"

"Einen Tag nach dem Anschlag war ich hier in Hanau. Ich habe Innenminister Seehofer gesehen, wie er Blumen niedergelegt hat - Blumen, bezahlt von den Steuern derer, die hier ermordet wurden. Bezahlt von Menschen, gegen die Seehofer hetzt, von denen er sagt, sie seien die Mutter aller Probleme. Kotzübel ist mir da geworden. Ich bin so wütend auf die gesamte Politik! Es ist Zeit für konkrete Maßnahmen. Wir müssen einsehen, dass es in unserer Gesellschaft einen breiten rassistischen Konsens gibt. Das ist die Realität. Und es muss so dringend etwas passieren!"


"Ich will zeigen, dass man etwas ändern kann"

"Der Anschlag hier, die Black-Lives-Matter-Bewegung, die Diskussion über Polizeigewalt - in der letzten Zeit setze ich mich immer stärker mit Rassismus auseinander. Ich finde, als weiße Person, die hier aufgewachsen ist, hat man die Pflicht und Verantwortung, etwas dagegen zu tun - auch wegen des Rassismus, der in den gesellschaftlichen Strukturen verankert ist. Denn auch, wenn man gar nicht bewusst rassistisch denkt, tun es dennoch viele - wegen der Strukturen. Ich will zeigen, dass man etwas ändern kann, wenn man nur will. Diejenigen, die hier gestorben sind, dürfen auf keinen Fall vergessen werden."


"Wir kämpfen weiter"

"Wir müssen gegen das Vergessen in der Gesellschaft kämpfen, deshalb sind wir hier. Ich bin Familienangehöriger eines Opfers und die vergangenen Monate fühlen sich surreal an, voller Angst und Panik. Es muss gehandelt werden. Die Familien brauchen sichtbare Veränderungen - von den Behörden, von der Politik. Wir kämpfen weiter. So lange, bis sich etwas tut."

Rétablir l'original