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Pinakothek der Moderne: Obdachlosigkeit und Stadtentwicklung hängen zusammen

Wohnungsmangel, Sozialabbau und nicht zuletzt die Pandemie haben das Risiko, in die Obdachlosigkeit abzugleiten weltweit verschärft. "Who's next?", müssen wir demnächst alle fürchten, unsere Wohnungen zu verlieren, fragt jetzt die Aussttellung im Architekturmuseum der TU.

Ein Foto gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt auf verstörende Weise, welche Ausmaße Obdachlosigkeit in den USA erreicht hat. Vor der prächtigen klassizistischen City Hall von San Francisco reihen sich die Zelte scheinbar endlos aneinander. Weil das Foto in Zeiten der Pandemie entstanden ist, stehen die Notbedarfsunterkünfte im Mindestabstand in aufgezeichneten Rechtecken auf dem Straßenpflaster. Ausnahmezustand in Reih und Glied.

Hotspots der Obdachlosigkeit in den USA

Corona hat - wie bei so vielen Dingen - auch hier ein Problem auf drastische Weise sichtbar gemacht: jenes der homeless people, oder auch rough sleeper, wie Obdachlose in den USA genannt werden."Wir haben acht Weltstädte außerhalb Europas ausgewählt, um das Problem zu verdeutlichen. In Europa haben wir den Sozialstaat. Und was die Ausstellung zeigt: Wir brauchen den Sozialstaat, wir müssen ihn beschützen und ausbauen, um Obdachlosigkeit zu minimieren", sagt Kurator Daniel Talesnik. "Die Beispiele außerhalb Europas haben durchschnittlich wesentlich höhere Zahlen von Obdachlosen und wir können sehen, wie eine Gesellschaft ohne Sozialsystem aussieht."

Besonders virulent ist das Problem in amerikanischen Großstädten wie San Francisco, New York oder Los Angeles, wo Bettenlager auf der Straße zum Stadbild gehören. Aber auch in Mumbai, Moskau oder Shanghai wächst die Zahl der Menschen, die unter Brücken, in Parks oder auf Abluftschächten der U-Bahn schlafen. Das wird schon beim Blick auf die Fotos an der Wand deutlich, noch mehr aber durch die vielen Statistiken, angebracht auf Litfasssäulen im Ausstellungsraum. Oft muss man zweimal lesen, einerseits weil die Menge an Text erschlagend ist, andererseits weil die Zahlen unglaublich erscheinen: In Los Angeles hat sich die Obdachlosigkeit seit 1990 versechsfacht, in New York ist jedes zehnte Kind davon betroffen, in Mumbai insgesamt schätzungsweise 250.000 Menschen.

Auch Notunterkünfte können schön gestaltet werden

Dass Obdachlosigkeit aber nicht nur eine soziale, sondern auch eine architektonisches Herausforderung ist, darauf möchte das Architekturmuseum ebenfalls hinweisen, erklärt Direktor Andres Lepik: "Es gibt sehr, sehr wenig Architekt*innen, die sich mit diesem Thema beschäftigen und wir versuchen mit der Ausstellung durch die Vorstellung von 19 ausgewählten Projekten zu zeigen: Das ist eine Gestaltungsaufgabe, die es wert ist, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir wollen das in die öffentliche Debatte stellen und zeigen, dass Notunterkünfte auch schön gestaltet sein können und in der Nachbarschaft gewünscht sein können, weil sie eine Gegend aufwerten."

Ein Beispiel gelungener Gestaltung ist das Projekt "VinziRast-mittendrin" in Wien, das Studierende und Obdachlose in WGs zusammenbringt und gleichzeitig einen öffentlichen Begnungsort schafft mit Restaurant und Gästegarten im Erdgeschoss. In Seattle dient Rem Kohlhaas' 133 Millionen Euro teure Stadtbibliothek aus Stahl und Glas als gewollter, teils umfunktionierter Zufluchtsort für Bedürftige; in London sind es mobile, übereinandergestapelte Billig-Wohncontainer. 

München hat kaum Obdachlosigkeit - und wenig Hilfen

Im letzten Raum der Ausstellung wird schließlich auch noch München unter die Lupe genommen. 39 Quadratmeter stehen einem Menschen hier durchschnittlich an Wohnraum zur Verfügung. Die Obdachlosigkeit ist vergleichsweise gering. Umgekehrt gibt es wenig Einrichtungen und Hilfen für Betroffene. Als Museumsschau ist das Ganze eigentlich eine Zumutung, weil zu textlastig, zu kleinteilig, zu unübersichtlich. Als Dokumentationsprojekt und Debattenanstoß trifft "Who's next" trotzdem voll ins Schwarze. Spätestens beim Griff zum druckfrischen Katalog wird klar, wohin Wohnungsmangel, Sozialabbau und steigende Mietpreise perspektivisch führen, nämlich: in eine Welt ohne Zuhause. Und diese Warnung gilt auch München.

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