In Berlin entstehen immer mehr Obdachlosenlager. Die Armut drängt zurück in die Mitte der Stadt. Wie gehen wir damit um?
Passanten lassen die Treppe, die von der Brücke ans Spree-Ufer führt, links liegen. Zu schön ist der Blick von oben über den Fluss. Wer aber doch den Stufen hinunter folgt, trifft dort Socke. Um einen Campingtisch versammelt, auf dem sich leere Schüsseln stapeln, sitzt er an einem warmen Morgen Ende Mai mit Minnie, Manu, Matze, Sonne, Husky und Antoine – sieben Männer mit bunten, strähnigen Haaren, schweren Stiefeln und Piercings. Noch seien alle zu Hause, noch habe der Arbeitstag nicht begonnen, sagt Socke. Ihr Zuhause, das sind sieben Campingzelte, die sich um eine kuppelartige Konstruktion aus Planen gruppieren. „Wir bauen hier den Reichstag nach“, sagt er und grinst. Socke, offenes Gesicht, auf die Stirn ein Kreuz, unter das linke Auge eine Träne tätowiert, kennt die Bewohner der Platte, wie er das Lager nennt, seit Jahren. Später wird er sagen, dass sie seine Familie, seine Kommune wären. Sie hatten schon viele Domizile: Am Nikolassee und in Rummelsburg lebten sie etwa, doch hier, unter ihrer Brücke im Osten der Stadt, wollen sie bleiben. Zumindest vorerst.
Camps als Ausdruck der Krise
Immer mehr Menschen in Berlin leben auf der Straße, unter Zelten, Planen, Brücken. Längst sind die Lager nicht mehr zu übersehen. Während hohe Mieten die Einkommensschwachen aus dem Zentrum an den Stadtrand verdrängen, entstehen mitten in Berlin Camps als sichtbare Zeichen der Armut. Rund 17.000 Menschen sind in Berlin aktuell als wohnungslos gemeldet – ein neuer Höchststand. Vor allem Menschen in prekären Verhältnissen leiden unter dem angespannten Wohnungsmarkt. Gleichzeitig sind die Notunterkünfte überfüllt, mittlerweile auch im Sommer. Das Problem spitzt sich zu – und dürfte die Stadt noch eine Weile beschäftigen. Denn in wenigen Jahren werden auch viele der Geflüchteten aus den Notunterkünften obdachlos sein.
Viele Anlaufstellen für obdachlose Menschen im Zentrum der Stadt sind bereits wieder Geschichte. Die Cuvrybrache in Kreuzberg, als „erste Favela Deutschlands” zu umstrittener Bekanntheit gelangt, ließ der Eigentümer vor knapp zwei Jahren räumen, die Siedlung auf dem Gelände der ehemaligen Eisfabrik in der Köpenicker Straße wurde bereits Ende 2013 aufgelöst. Das Teepeeland, eine kommunenartige Zeltstadt an der Schillingbrücke, errichtet hinter dem Eisfabrik-Gelände, brannte vor wenigen Wochen zum Teil nieder. Es waren Orte, an denen Menschen, die durch alle sozialen Sicherungsnetze gefallen sind, eine Form von Gemeinschaft fanden. Sie zu romantisieren, wäre dennoch falsch. „Camps und Zeltlager sind Ausdruck der Krise in Berlin“, sagt eine Straßensozialarbeiterin des Vereins Gangway.
Auf der anderen Seite der Stadt, in Halensee, rauscht der Verkehr über den Kurfürstendamm. Fünf Minuten läuft man vom betongrauen Westende des Boulevards durch eine ruhige Seitenstraße, zwängt sich durch einen Bauzaun, streift einige Schritte durch wadenhohes Gras, dann tauchen die ersten Zelte auf. Verlassen liegt das Camp in der Sonne. Planen, Stoffbahnen und Wäscheleinen, Plastiksäcke, Bett- und Handtücher – Zurückgelassenes, geschichtet, verknotet und verwoben zu einer Stadt aus Flicken. Kein Geräusch stört die Stille, bis der Regionalexpress vorüberfegt. Wer vom Bahnhof Westkreuz in den Osten der Stadt fährt, sieht die Siedlung nur für einen kurzen Moment am Zugfenster vorbeifliegen. Sieht nicht den Kinderwagen, die Campingstühle mit beschädigten Beinen, den einzelnen Schnürschuh im Gras. Etwa 40 Menschen sollen hier leben, doch gerade ist niemand zu sehen. Es ist Vormittag, und die Bewohner werden erst am Abend zurückkehren.
Seit rund zwei Jahren haben die Siedler, zum Großteil aus Rumänien und Bulgarien, ihre Zelte hier aufgeschlagen. Lange hatte man sie gewähren lassen. Nun, Ende Mai, wurden am Bauzaun, der die Rasenfläche in der Heilbronner Straße umsäumt, laminierte Infoschreiben angebracht. Auf Deutsch und Rumänisch ist die Aufforderung zu lesen: Bis zum 31. Mai will der Grundstückseigentümer, die brandenburgische Firma Pro 31 Area, den Bewohnern Zeit geben, das Lager freiwillig zu verlassen. Danach soll die Polizei das Camp räumen. Die Brache und ihre Bewohner sind zum Politikum geworden, zum Symbol des hilflosen Umgangs der Stadt mit Armut im öffentlichen Raum.
Zurück im Osten. Sechs Hunde – große, kleine, zottelige – sprinten über die Platte unter der Brücke. Socke hebt eine Zeltplane an, unter der eine Messingplakette glänzt. „Bye bye Berlin” steht darauf. Er selbst habe sie in den Boden geschlagen, als er vor 15 Jahren zur Fremdenlegion gegangen sei. Seit seiner Rückkehr aus Afghanistan lebe er auf der Straße. „Für Heimkehrer wird gesorgt“, sagt er zynisch. Mit seinen 38 Jahren ist Socke einer der beiden ältesten Bewohner des Camps, Minnie, der Jüngste, ist 21. Wenn er seine Mutter in Thüringen besucht, müsse sie heulen, sagt Minnie, aber das sei ihm egal. Hier habe jeder einen Grund zum Saufen. Sein Stiefvater sei seiner.
Wer hier strandet, darf für ein paar Nächte bleiben – sofern alle im Plenum zustimmen. „Aber wer nichts zur Kommune beiträgt, muss gehen“, sagt Socke. Wenn die Campbewohner zum Arbeiten – zum Schnorren, so sagen sie selbst – ausschwärmen, bleibt einer von ihnen zurück, um auf das Camp aufzupassen. „Plattenwache“ heißt das. Auch in dieser Gruppe existieren klare Regeln. Auf dem Boden vor den Zelten liegen Zigarettenstummel, sonst ist kaum Müll zu sehen. Die Szenerie erinnert eher an ein Festivalcamp am letzten Tag als an ein Elendsquartier. Die Bewohner sind mit der Polizei und dem Ordnungsamt im Gespräch, man verhandelt: über Schmutz, über Lärm. Ihre Platte ist geduldet, und das soll auch so bleiben.
„Geputzt wird jeden Tag”, sagt Minnie. „Schön wär’s, wenn du dich auch mal dran halten würdest”, sagt Socke. Es sind Unterhaltungen, wie man sie aus jeder WG kennt. Wer einen Tag mit den Campbewohnern verbringt, hört, wie sie sich gegenseitig aufziehen, spürt, wie sie aufeinander achtgeben, vergisst schnell, dass sie sich in Not befinden. Bedauern und Mitleid schwinden, man beginnt zu ahnen, was sie an diesem Ort hält. Das Camp gleicht einem Refugium in einer Welt, in der für sie alle kein Platz war. Und in die einige von ihnen nicht mehr zurückkehren können.Wer einmal draußen war, hat selten eine Wahl.
Obdachlosigkeit auf dem Höchststand
Seit der Wiedervereinigung gab es noch nie so viele Obdachlose in Berlin, sagt Kai-Gerrit Venske von der Caritas. Vor allem in den letzten sechs Jahren beobachte der Caritasverband für das Erzbistum Berlin einen starken Anstieg. Es gäbe wieder mehr obdachlose Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, sagt Vense, der größte Teil jedoch käme aus Südosteuropa. Rumänien, Bulgarien, Ukraine, aber auch Polen – sichere Herkunftsstaaten laut deutschem Asylrecht. Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten seien selten unter den Campbewohnern. Denn solange die sich im laufenden Asylverfahren befinden, sind sie untergebracht, wenn auch oft unter schwierigen Bedingungen. Sobald ihr Asylantrag jedoch anerkannt wird, landen sie im Regelsystem, in Notunterkünften – im schlimmsten Fall aber eben auch auf der Straße.
Über Halensee breitet sich die Dämmerung aus, jetzt sind die Bewohner der Zeltstadt versammelt. In einem Halbkreis stehen sie unter einem Baum, die Arme vor der Brust verschränkt. Wer mit ihnen sprechen möchte, blickt in ernste, verschlossene Gesichter. English? German? Ein schwerer Mann mit ergrautem Bart, gestützt auf einen Stock, hebt bedauernd die Schultern. Die Frage danach, wie er sich fühlt, scheint er dennoch zu verstehen. „Poliție“, sagt er, „Police. Problem.“ Eine Frau im bunten Rock tritt aus der Gruppe hervor. „Food?“, fragt sie, „Money?“, und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, schüttelt sie abwehrend den Kopf. „Go“, sagt sie und faltet die Hände, „please.“
Eine Barriere aus Gestrüpp und Bäumen trennt die Zeltstadt von einem Gartengrundstück. „Die Leute aus dem Camp, das waren viele Monate lang gute Nachbarn“, sagt ein Anwohner, ein grauhaariger Mann in Sandalen. Ohne Hast hat er sich aus seinem Gartenstuhl erhoben. Die Presse, so scheint es, schaut hier gerade häufiger vorbei. Ordentlich und freundlich seien die Bewohner gewesen, man wurde sogar eingeladen, im Camp vorbeizukommen. Als einige der Roma die Wintermonate auf der Brache verbrachten, hätten er und seine Frau mit Essen ausgeholfen. „Alles kein Problem“, sagt er. „Aber dann sind es einfach zu viele geworden.“ Vor allem die Hygiene erschwere es, das Camp klaglos hinzunehmen. „Viele Bewohner erleichtern sich hinter der Kleingartenanlage. Wenn dann der Wind dreht, wird es unangenehm“, sagt er. Behelfsmäßige Toiletten, gezimmert von den Siedlern, und Container, die der Grundstückseigentümer aufgestellt hat, ändern nichts an den Zuständen.
Widerstand formiert sich
Schnell hat sich Widerstand gegen die geplante Auflösung der Zeltstadt formiert. Die Räumungsaufforderungen, die am Zaun um die Brache hängen, wurden beschmiert. Schwarze Schlieren, Anarchie-„A“s, ein Aufkleber fordert: „Asylflut stoppen“. Darunter: das Logo der NPD. Vor Ort ist unklar, wer Anstoß nimmt an der Besetzung der Brache – und wer ihre Bewohner verteidigen möchte. Auf dem Internetportal Indymedia haben sich Linksradikale dazu bekannt, die Aushänge übersprüht zu haben, auch einen Angriff auf das Charlottenburger Wahlkreisbüro des SPD-Abgeordneten Frank Jahnke nehmen sie auf ihre Kappe. Allein um die Brache scheint es hier längst nicht mehr zu gehen.
An diesem schwülen Abend Ende Mai ist die Zukunft der Campbewohner ungewiss. Wenige Tage später, am 1. Juni, wird Sozialstadtrat Carsten Engelmann (CDU) sagen, dass er eine „friedliche Lösung” bevorzuge. Statt das Camp räumen zu lassen, wird man den Bewohnern bis Mitte Juni Zeit geben, ihre Zelte abzubauen. Anfang Juni werden einige von ihnen bereits in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sein, weitere Bewohner sollen es ihnen gleichtun. Die Reisekosten, wird Engelmann sagen, wolle der Bezirk tragen. So unbemerkt, wie sie lange hier lebten, werden die Bewohner der Brache verschwunden sein.
Im Fall des Camps in Halensee ist
die Rechtslage klar: Weil die Zeltstadt auf Privatgrund steht, kann der
Eigentümer die Polizei alarmieren. Campen ist dort Hausfriedensbruch.
Prinzipiell gilt wildes Campieren in Deutschland als Ordnungswidrigkeit,
doch das Ordnungs- oder Grünflächenamt lasse ein Lager im öffentlichen
Raum in der Regel erst räumen, wenn sich Dritte über Lärm oder Dreck
beschweren, sagt die Streetworkerin von Gangway. Gefährden die Zustände
in einem Camp die Gesundheit seiner Bewohner oder der Allgemeinheit,
müssten die Beamten die „öffentliche Ordnung“ wiederherstellen. „Und
diese Weisung wird eben oft als Räumung ausgelegt“, sagt die
Sozialarbeiterin. Immerhin würden viele Ämter zu verstehen beginnen,
dass man das Problem so nicht lösen kann. Dass die Lager nicht einfach
verschwinden – sondern an anderer Stelle wieder auftauchen.
Denn vor allem in den kalten Monaten brauchen Wohnungslose ein festes
Quartier. Auch Socke und seine Mitbewohner hätten schon häufig draußen
überwintert. Durch ein Rohr unter ihrer Brücke wurde bis vor einigen
Jahren Fernwärme geleitet, aber damit sei es nun vorbei. Im letzten
Winter breiteten sie Planen über ihre Zelte und steckten Styropor in die
Zwischenräume. „Ging schon“, sagt Socke. Ob er gern eine Wohnung hätte?
„Ich bin ein Veteran hier draußen“, sagt er. „Wenn ich in eine kleine
Bude komme, wird’s mir zu eng. Ich hab schon in zu vielen Scheißlöchern
gelebt.“
Socke lockert seinen Jackenkragen. „Sandra“ steht in geschwungenen
Lettern auf seinem Hals. „Sandra“, sagt Socke, „hat es nicht
geschafft“. Er habe sie an der Warschauer Straße kennengelernt, unter
dem ersten Baum. „Meine bessere Hälfte“ nennt er sie. Sandra war die
einzige Frau, die auf der Platte gelebt hat, „weil sie wie ein Kerl
war“, sagt Socke. Sonst wohnen hier nur Männer zusammen. Eine bewusste
Entscheidung: Man wolle, dass nichts zwischen den Bewohnern steht. Vor
wenigen Monaten ist Sandra verstorben. Den Verlobungsring, den Socke am
Finger trägt, will er nicht mehr abnehmen.
Er und seine Kommune müssen zusammenhalten. Denn das Leben auf der
Straße ist gefährlich, vor allem allein. Immer wieder werden Obdachlose
Opfer von Übergriffen, für Neonazis sind sie ein beliebtes Ziel. Doch
die Zeltgemeinschaften bieten nicht nur Schutz. Die Lager, sagt ein
Gangway-Mitarbeiter, seien auch ein Signal. Jene Menschen, denen kein
Platz in der Gesellschaft zugestanden wird, okkupieren nun den
öffentlichen Raum. Und sie werden gesehen. „Viele obdachlose Menschen
haben uns schon berichtet, dass Passanten beginnen, sich ihrer
anzunehmen, wenn sie sehen, dass ein Camp dauerhaft besteht“, sagt er.
So geschieht es auch hier. Tritt man vom Camp ans Ufer, blickt man auf das Gelände eines Nachtclubs. Techno und Bretterbuden mit Lichterketten, keine zwanzig Meter von ihrem Lager entfernt. Manchmal, erzählt Socke, bringen die Mitarbeiter ihnen Kaffee oder Bier vorbei, sogar einen Gartenschlauch haben sie ihnen gegeben, um die Platte sauberzuhalten. „Auch die Raver pissen ja mal unter die Brücke“, sagt er. Socke und seine Kommune, eine anarchisch anmutende Truppe mit Gesichtstattoos und Nietenschmuck, verhandeln mit der Polizei und kooperieren mit den Nachbarn, um ihr Zeltlager zu legalisieren. Denn hier, auf ihrer Platte im Osten der Stadt, wollen sie bleiben. Zumindest vorerst. Vielleicht, denkt man bald, wollen sie gar nicht die öffentliche Ordnung in Frage stellen. Vielleicht wollen sie einfach einen Platz, irgendwo in Berlin.
Rétablir l'original