1 abonnement et 2 abonnés
Article

Bedeutung des Fastens: Die Sehnsucht nach Mäßigung wächst

73 Prozent der Deutschen wollen auf Alkohol verzichten - das ist nicht nur für den Körper gut.

Für Millionen Deutsche ist von Aschermittwoch an Schluss mit lustig: Die Fastenzeit beginnt. Mit Religiosität hat der Verzicht oft nur wenig zu tun. Vielmehr nutzen viele Menschen die Zeit vor Ostern als Selbstversuch - und zur Selbstoptimierung.

Stuttgart - Wasser statt Wein, Rohkost statt Rostbraten, Achtsamkeit statt Autofahren: Am heutigen Aschermittwoch geht die närrische Zeit zu Ende. Für Christen beginnt damit die knapp siebenwöchige Fastenzeit.

Doch die Fastenzeit ist längst nicht mehr nur gläubigen Christen vorbehalten: Das bewusste Verzichten ist zu einer Art Lifestyle geworden. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse DAK halten 63 Prozent der Deutschen einen mehrwöchigen Verzicht auf ein bestimmtes Genussmittel oder Konsumgut für sinnvoll. Dabei stehen Alkohol (73 Prozent) und Süßigkeiten (67 Prozent) ganz oben auf der freiwilligen Verzichtliste, danach folgt der Verzicht auf Fleisch (46 Prozent), Fernsehen (39 Prozent) sowie Rauchen (38 Prozent).

Die Fasten-Fans werden immer mehr

Laut der Studie nutzen vor allem viele jüngere Menschen die Fastenzeit als Selbstversuch, um zu prüfen, wie lange sie auf vermeintlich ungesunde oder zeitraubende Gewohnheiten verzichten können. „Das passt gut in die ökologisch-nachhaltige Stimmung, die derzeit in Europa und teils auch in Amerika herrscht“, meint der Freiburger Philosophieprofessor Andreas Urs Sommer. Er beschäftigt sich schon länger mit den Themen Fasten und Verzicht. „Die Menschen wollen nicht immer nur Fülle und das Maximum. Sie wollen gelegentlich bewusst auf etwas verzichten, um wieder das zu schätzen, was sie haben.“

Der Philosoph Sommer sagt, dass das Fasten in den vergangenen zehn bis 15 Jahren zunehmend prominent geworden sei. „In meiner Jugend in den 80er Jahren war das noch kein großes Thema – außer im streng religiösen Milieu.“ Dies bestätigen auch die Zahlen der DAK: 2011 hielten 53 Prozent der Deutschen das Fasten für sinnvoll – deutlich weniger als in diesem Jahr mit 63 Prozent. Der Forscher sieht den Boom auch darin begründet, dass das hiesige Schönheitsideal nach wie vor schlanke Körper idealisiere – vor allem bei Frauen.

Sonntage zählen nicht mit

Ursprünglich hatte das Fasten weder etwas mit Gewichtsabnahme noch mit anderweitiger Selbstoptimierung zu tun: Im Christentum ebenso wie im Islam, Judentum, Buddhismus und Hinduismus sollte das Fasten dem Reinigen des Körpers und dem Nach-innen-Richten des Blicks dienen. Christen fasten von Aschermittwoch bis Gründonnerstag. Man spricht dabei von 40 Tagen, weil die katholische Kirche die Sonntage nicht mitzählt; sie gelten als Tage des Herrn, an denen auf nichts verzichtet werden muss. Das soll an jene 40 Tage erinnern, die Jesus ohne Nahrung in der Wüste verbrachte. „Es ist eine Minderheit, die heutzutage noch aus religiösen Gründen ­fastet“, sagt Philosoph Sommer. „Das säkularisierte Fasten nimmt zu.“

Einer, der von diesem Mittwoch an bewusst verzichtet, ist Anton Seeberger, katholischer Pfarrer der Stuttgarter Innenstadtgemeinde St. Konrad. Leicht fällt ihm die Fastenzeit – er verzichtet jedes Jahr auf Alkohol und Süßigkeiten – nie: „Es ist leichter, gar nichts zu essen, als bewusst weniger zu essen oder bestimmte Dinge wegzulassen“, sagt er. Auch die Abendmahlzeiten versucht er auszulassen. Nur sonntags genehmigt er sich gelegentlich Ausnahmen. In diesem Jahr will Seeberger zusätzlich bis Ostern auf Plastik zu verzichten, um Müll zu vermeiden. Das ist ein gemeinsames Vorhaben mehrerer katholischer Gemeinden in Stuttgart, die Aktion nennt sich „40 Tage für die Welt“.

Früher wurde auch auf Sex verzichtet

Auf die Frage, ob gläubige Christen heutzutage noch fasten sollten, antwortet Anton Seeberger ganz klar mit einem Ja: „Manche Menschen verbinden das religiöse Fasten automatisch mit einem moralischen Zeigefinger. Aber dem ist nicht so: Gott hat nichts davon, wenn wir uns das Leben unnötig schwer machen. Es geht darum, dass wir während und nach der Fastenzeit wieder bewusster leben.“ Hierzulande hätten die Menschen den Bezug zu Lebensmitteln verloren, weil alles immer da sei, sagt er. Der Priester betont jedoch, dass es nicht nur um den Verzicht gehe, sondern zum Fasten auch das Beten sowie das Geben von Almosen dazugehöre: „Wir Christen wollen drei Beziehungen intensivieren: durch das Fasten die Beziehung zu uns selbst, durch das Beten die Beziehung zu Gott und durch das Teilen die Beziehung zu anderen.“

Für den Stuttgarter Priester ist es aber auch in Ordnung, während der Fastenzeit zum Beispiel lediglich auf Schokolade zu verzichten. „Oft merke ich in Gesprächen, dass auch diejenigen, die nur auf Schokolade verzichten, durchaus etwas Höheres mit dem Fasten verbinden.“ Dass Menschen während der Fastenzeit heutzutage noch auf Sex verzichten, so wie dies noch im Mittelalter der Fall war, ist Anton Seeberger in seinen Gesprächen noch nie begegnet. „Ich finde den Gedanken aber interessant“, sagt er. Für ihn wäre dies freilich keine Option, schließlich lebt er als Priester das ganze Leben lang enthaltsam.

Die schwierige Mitte zwischen Übermaß und Mangel

Unterdessen beurteilt der Philosoph Andreas Urs Sommer das Fasten differenziert: „Insgesamt tut das unserer Gesellschaft sicher gut. Aber es gibt Übertreibungen. Ich denke da zum Beispiel an die sogenannten ‚Pro Ana’-Seiten im Internet, die Anorexie, also Magersucht, als Lebensmaxime ansehen. So weit sollte das Fasten nicht gehen, Maßhalten ist wichtig.“ Außerdem gebe es auch Menschen, die unter dem freiwilligen Verzicht der anderen litten – etwa Wein- oder Kakaobauern, die sich ein anderes Auskommen suchen müssen, wenn Millionen Menschen länger freiwillig auf Wein oder Schokolade verzichteten.

Obwohl der Philosophieprofessor in den vergangenen Jahren nie traditionell gefastet hat, pflegt auch er Praktiken des Verzichts: „Ich nehme mittags keine reichhaltige Mahlzeit zu mir, damit ich mich umso mehr auf das Abendessen freuen kann.“ Damit folgt Sommer gewissermaßen einer mehr als 2000 Jahre alten Weisheit – der Mesoteslehre, die auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurückgeht. Sie besagt, dass es im Leben immer darauf ankommt, die gesunde Mitte zwischen dem Übermaß und dem Mangel zu finden.

Rétablir l'original