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Als Berlin erstmals Bundesliga-Derbys erlebte

Bild: dpa/Konrad Giehr

Vier Berliner Derbys gab es bereits in der Bundesliga-Geschichte. Die Paarung war stets dieselbe: Hertha BSC und Tennis Borussia duellierten sich in den 70er-Jahren im Fußball-Oberhaus. Mit klaren Vorzeichen - aber nicht ohne Überraschungen. Von Johannes Mohren

Es ist der Nachmittag des 16. November 1974. In München sitzt ein kleiner Junge vor dem Fernseher. Fast 600 Kilometer entfernt von West-Berlin - und damit von dem Ort, an dem an jenem Samstag Fußball-Geschichte geschrieben wird.

"Das war schon ziemlich schade", erzählt er im Gespräch mit rbb|24. Denn Jens - so heißt der Junge - ist als gebürtiger Berliner gerade erst in den Süden gezogen und glühender Fan von Tennis Borussia. Und an jenem 13. Spieltag der Saison 74/75, als es die Bundesliga gerade einmal zwölf Jahre gibt und sie damit genauso alt ist wie der lila-weiße Anhänger im bayrischen Exil, spielt Aufsteiger TeBe im Olympiastadion gegen Hertha BSC. Es ist eine Premiere. Zuvor hat es nur in München und in Köln erstklassige Fußball-Derbys gegeben. Nun also auch in Berlin.

"Es war vollkommen irre, was da ablief"

Jens hat an dem Nachmittag nur die Bilder der Fernseh-Zusammenfassung - und natürlich Erzählungen. "Meine Großeltern waren damals da", erinnert er sich, "und ich weiß noch, dass meine Oma vollkommen von den Socken war. Die hatten am Stadion unheimlich viele Kassenhäuschen auf. Sie hat berichtet, dass vollkommen irre war, was da ablief."

75.000 Zuschauer kommen zu dem Spiel. Eine imposante Zahl. Auch - und gerade (!) - damals. "Der Schnitt bei Tennis Borussia lag in der Saison vielleicht bei ungefähr 10.000", berichtet er. Inzwischen ist der kleine Jens von 1974 - Nachname Schleifenbaum - 56 Jahre alt, längst zurück in Berlin und damit seit Jahrzehnten wieder Stammgast bei TeBe.

"Da wollten noch mehr hin" 

Das Bundesliga-Stadtduell begeistert damals Berlin. Und sorgt für Aufmerksamkeit. Wenn der zwölfjährige Junge in Bayern die Zeitung aufschlägt, kann er auch davon lesen. So ist es zumindest in seiner Erinnerung. "Es ging ziemlich durch die Medien. Ich glaube, selbst in München war das so." Ein Wunder wäre es nicht. "Es war ein Klassiker. Man war ja zuvor schon immer wieder aufeinander getroffen", erzählt Schleifenbaum heute.

Auf deutlich mehr als hundert Begegnungen können die Vereine zu diesem Zeitpunkt schon zurückblicken - nur eben noch nie in der Bundesliga. Das ist das Neue. Das ist der Reiz. "Ich kann mich entsinnen, dass es Berichte gab, dass da lange noch Leute vor dem Stadion standen, zum Spiel wollten - und dann entweder fast reingestürmt sind oder wieder nach Hause gehen mussten. Da wollten also noch mehr hin."

Diese Kulisse hat auch Uwe Kliemann nicht vergessen. Er - ein Kind Berlins, das in Lichterfelde mit dem Kicken begann - ist vor der Saison nach Stationen bei Oberhausen und Frankfurt gerade zurück in die Heimat gekommen. Nun spielt er für Hertha BSC. Und so steht der beinharte Vorstopper - Spitzname: Funkturm - auch am 16. November 1974 gegen TeBe auf dem Feld - in diesem ersten Derby genauso wie in den drei weiteren, die in den 70er-Jahren noch folgen sollen.

David gegen Goliath

"Das war natürlich eine super Atmosphäre", erzählt er im Gespräch mit rbb|24. "Ich habe im Olympiastadion auch vor 20.000 Zuschauer oder noch weniger gespielt. Das ist dann schon trostlos. Also war es eine wirklich tolle Geschichte."

Die Favoritenrolle ist klar vergeben. Hertha ist gestandener Bundesligist. Und TeBe hat es überraschend erstmals ins Fußball-Oberhaus geschafft. "Der Verein hat im Grunde für die zweite Liga geplant. Die hatten kein Geld, ein junges Team und im Grunde gar nicht vor aufzusteigen", sagt Schleifenbaum. Er erlebt den Triumph mit - es ist der Moment, in dem es ihn endgültig packt.

Die Entscheidung fällt vor 20.000 Zuschauern im Moabiter Poststadion durch ein 3:1 gegen St. Pauli. "Die waren damals auch noch eher eine graue Maus - überhaupt nicht dieser Kultverein." Für Jens sind jetzt nicht mehr nur die Erzählungen seines Vaters aus den erfolgreichen 50er Jahren des Klubs - er kann es nun selbst spüren. "Es wurde aufs Spielfeld gelaufen. Es gab einen Autokorso. Einfach alles, was dazugehört. Das war natürlich toll - und ich TeBe-Fan."

Einmal Grau, zweimal Beer

Entsprechend siegessicher sind die Herthaner vor dem Derby. "Wir wollten natürlich gewinnen", sagt Kliemann. Das gelingt am Ende auch deutlich - auch wenn der spätere Absteiger TeBe den späteren Vizemeister Hertha BSC zunächst ordentlich ärgert. Erst in der 53. Minute fällt die Führung. Später legt Erich 'Ete' Beer nach. Und das gleich doppelt. Der Stürmer der Herthaner erzielt in diesem besonderen Spiel zwei seiner 83 Treffer. So wie es ein Klub-Idol eben macht. "Es gab nie einen Zweifel daran, dass Tennis Borussia in diesem Spiel keine Chance hatte. Es war ein Spiel David gegen Goliath. Und der Goliath hat souverän gewonnen", sagt Kliemann.

"Das war im gesamten ersten Bundesliga-Jahr so. Man hat viel Lehrgeld bezahlt", sagt Schleifenbaum - und Hertha sei nun mal "sportlich eine ganz dicke Nummer" gewesen. Den kleinen Jens schockt das damals nicht. Bei ihm sei es so, wie es mit der Fußball-Liebe - in aller Regel - ist. Ist das Herz einmal vergeben, findet kein anderer Klub mehr Platz. Wenn seine Freunde in München in Bayern-Rot oder 1860-Blau auf den Bolzplatz kommen, trägt er TeBe-Lila. 

Letztes Bundesliga-Derby: 16. April 1977 

"Es ist nicht so, dass ich nur veräppelt wurde. Das haben sie schon akzeptiert", sagt er und lacht. Daran ändert auch nichts, dass die Lila-Weißen direkt wieder runter müssen. Das Damoklesschwert schwebt schon länger über TeBe, endgültig besiegelt wird der Abstieg - ausgerechnet (!) - im Rückspiel gegen Hertha BSC. Es ist denkbar knapp. 2:1 verliert Tennis Borussia gegen den Stadtrivalen, der zu diesem Zeitpunkt fünf Spieltage vor noch berechtigte Hoffnungen auf den Titel hat.

Die Folge? Ein Jahr Derby-Pause. Doch TeBe steht am Ende der Saison in der zweiten Liga an der Spitze. Und kommt direkt zurück. Im Hinspiel ist alles wie immer. Es wird 90 Minuten gespielt und als der Schiedsrichter abpfeift, jubelt Hertha BSC. Es scheint schon fast wie ein Automatismus. Bis zum 16. April 1977.

Im vierten Bundesliga-Duell der beiden Teams - dem bislang letzten Berliner Derby in der ersten Liga - ist alles plötzlich anders. "Da war mein Vater im Stadion. Und wir waren auch schon wieder quasi abgestiegen", erinnert sich Schleifenbaum. "Aber haben dieses Spiel zumindest einmal gewonnen. Das war für ihn natürlich schön, dass er das erlebt hat."

Als Kliemann vom Platz fliegt 

Dass das gelingt, hat auch viel mit Uwe Kliemann zu tun. Der Funkturm fliegt vom Platz. Noch vor der Pause. "Das ist mir in meiner ganzen Karriere nur zwei Mal passiert." Erst hatte er eine Entscheidung des Schiedsrichters kommentiert. Gelb. Und dann Benny Wendt gefoult - den Top-Spieler von Tennis Borussia. "Die sind ihm immer unheimlich auf die Socken gegangen", erinnert sich Schleifenbaum. "Alle haben gewusst: Wenn man Benny Wendt ausschaltet, ist TeBe chancenloser. Der hat in 30 Spielen 20 Tore gemacht. Er war ein Star für uns. Eine echte Granate." Für Kliemann gibt es dafür den Platzverweis. "Ich bin sofort hoch in die Kabine, habe schnell geduscht, bin direkt nach Hause - und habe mich riesig darüber geärgert. Ich fand das auch für mich sehr peinlich", sagt er.

In Überzahl trifft der David zwei Mal. Und jubelt gegen den Goliath. Den Abstieg verhindert das nicht mehr. Die Bundesliga-Jahre von TeBe sind vorbei - und die erstklassigen Derbys in Berlin für 42 Jahre auch. Bis Samstag. Dann geht das Geschichtsbuch wieder auf. Und es ist Zeit für neue Uwe Kliemanns. Und neue kleine Jense.

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