Es ist die erste Aufgabe einer Regierung, sich für die eigenen Staatsbürger einzusetzen. Man kann das Verfahren kritisieren, aber am Ende geht es doch um das Ergebnis. Darüber sind wir uns doch alle einig: Die Türkei ist aktuell kein Rechtsstaat mehr. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich das Land wieder in eine demokratische Richtung entwickelt. Die Äußerungen Erdogans in den letzten Monaten bis hin zu dem Vorschlag, so etwas wie einen Gefangenenaustausch zu vereinbaren, zeigen, dass es mit einer unabhängigen Justiz in der Türkei nicht weit her ist.
Ich bin auch nicht immer mit allem einverstanden, was Gerhard Schröder gemacht hat. Das war schon in den Zeiten so, in denen er Bundeskanzler war und ich Vorsitzender der Jusos. Trotzdem kann man dankbar sein und anerkennen, dass er den Kontakt zu wichtigen Persönlichkeiten wie Wladimir Putin und offensichtlich auch Präsident Erdogan über die letzten Jahre aufrecht erhalten hat. Und über dieses Vertrauen, das da aufgebaut worden ist, auch in der Lage war, nun etwas für Herrn Steudtner und seine Familie zu erreichen.
Offensichtlich ist es der Bundeskanzlerin, trotz ihrer auffallend vielen Reisen nach Ankara und Istanbul nicht gelungen, ein vergleichbares Verhältnis zu Präsident Erdogan aufzubauen. Und deshalb muss man manchmal - und das ist in der internationalen Diplomatie ja auch nichts Außergewöhnliches - auf solche Back Channel zurückgreifen. Dass Gerhard Schröder dazu weiterhin bereit ist, trotz der großen Kritik, die gerade auch aus der CDU an ihm formuliert worden ist, spricht für ihn.
Ich war bei dem Gespräch nicht dabei. Aber ich halte es für eine abwegige Vorstellung, dass dort irgendwelche „Preise" ausgehandelt werden. Ich habe eher den Eindruck, dass es nach der emotionalen Aufwallung, die wir auch in Ankara erlebt haben, auch innerhalb der AKP mehr und mehr Stimmen gibt, die dem eigenen Präsidenten dazu raten, das Verhältnis zu Deutschland wieder zu normalisieren. Es geht manchmal nur darum, so etwas wie eine gesichtswahrende Lösung zu finden. Das ist ein Preis, den man manchmal zahlen muss. Und dieser Preis niedriger ist als die weitere Inhaftnahme von Personen. Aber Deutschland ist ein Rechtsstaat - und wir sollten selbst nicht den Fehler machen, davon auszugehen, dass Deutschland Politik so macht, wie Herr Erdogan sie sich vorstellt. Dazu gehört, Gegenleistungen für möglich zu halten. Und klar ist: Herr Erdogan hat ganz genau mitbekommen, wie sich die deutsche Politik verändert hat. Es gibt Dinge, die auch die türkische Seite unter Druck setzen.
Die SPD hat eine Wende in der Türkeipolitik eingeleitet. Das ist uns nicht leicht gefallen, weil wir die Partei waren, die sich immer für enge Beziehungen und auch eine faire Beitrittschance der Türkei zur EU eingesetzt hat. Diese Wende hat mit Incirlik und der Frage der Besuchsrechte begonnen, wo wir am Ende den Abzug unserer Soldaten gegen eine zögerliche Union durchgesetzt haben. Die Verschärfung der Sprache, die Diskussion über eine Deckelung von Hermes-Kreditbürgschaften, die Forderung, die Zollunion-Verhandlungen nicht fortzusetzen und am Ende ja auch die Initiative, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen – das sind alles Punkte, die von der SPD durchgesetzt worden sind.
Das zeigt aus Ihrer Sicht nun Ergebnisse?
Man muss nüchtern feststellen: Diese Wende hat nun ein erstes konkretes Ergebnis gezeigt. Und die Politik von Frau Merkel hat das offenbar nicht geschafft. Sie hat sich nicht zu einer solchen konsequenten Haltung durchringen können. Und trotzdem hat das nicht dazu geführt, dass ihr Verhältnis mit Herrn Erdogan so vertrauensvoll geworden wäre, solche positiven Entscheidungen zu erwirken. Jetzt muss die Arbeit für die Freilassung der anderen Gefangenen mit gleicher Intensität weitergehen, denn wir wissen nicht, ob dieser erste Schritt zu einer weiteren Entspannung führt und es zu weiteren Fortschritten kommt. Ich warne aber vor zu viel Euphorie.
Grünen-Politiker Özcan Mutlu hat von einem „gutes Zeichen für die Rechtsstaatlichkeit der Türkei“ gesprochen. Vor dem Hintergrund der Art und Weise, wie die Freilassung wohl zustande gekommen ist: Stimmen Sie da zu?
Nein, das kann ich bei aller Freude nicht erkennen. Eher das Gegenteil. Es ist eine Chance für die konstruktive Entwicklung unserer Beziehung. Nicht mehr und nicht weniger. Und es ist auch ein trauriger Tag. Ein trauriger Tag, weil es unsere Befürchtungen bestätigt hat, dass die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist. Im Umkehrschluss müsste man sich vorstellen: Ein ehemaliger ausländischer Staatschef würde mit Bundespräsident Steinmeier oder Bundeskanzlerin Merkel über eine Entscheidung der deutschen Justiz verhandeln. Das zeigt schon, wie weit entfernt wir voneinander sind.
Es war eine Einzel-Intervention. Die grundlegenden Probleme bleiben. An der Situation des Rechtsstaats in der Türkei ändert sich damit nichts. Somit auch nicht an der deutsch-türkischen Beziehung?
Die Folge dieser selbstverschuldeten Entwicklung ist, dass die Türkei in diesem Zustand nicht Mitglied in der EU sein kann. Wir müssen konsequent bleiben. Das hat auch zu Änderungen der Wahrnehmung in Ankara geführt. Der Respekt und auch der Umgang mit der deutschen Politik hat sich verändert. Offensichtlich sind die Versuche, die Probleme hinter den Kulissen möglichst leise und diplomatisch zu lösen, als Schwäche interpretiert worden. Wir erwarten nun von Angela Merkel, dass sie diese Haltung in Brüssel auch durchsetzt. Noch kann ich davon nicht viel erkennen. Wir werden die weitere Entwicklung als Opposition intensiv begleiten. Gleichzeitig wollen wir aber auch die Tür zu einer gemeinsamen Türkei-Politik offen halten. Sie sind zu wichtig für einen Parteienstreit.
Peter Steudtner ist frei, viele andere noch nicht. Was heißt sein Fall für die weiteren Inhaftierten – Mesale Tolu etwa oder Deniz Yücel: Braucht es jetzt immer persönliche Coups à la Schröder, ist das das Mittel?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt Momente, da braucht es manchmal Personen, die von außen einen Anstoß geben und auch eine Veränderung herbeiführen können. Deswegen ist die Mission von Gerhard Schröder eine richtige Entscheidung gewesen. Es war ja auch für ihn nicht komplett ohne Risiko. Hätte es nicht funktioniert und wäre herausgekommen, hätte es sicher keine gute Presse gegeben. Grundsätzlich müssen solche Fragen in Zukunft zwischen den beiden Regierungen institutionell geregelt werden. Wir erwarten natürlich von unseren türkischen Partnern, dass wir uns wieder auf rechtsstaatliche Verfahren verlassen können. Und deshalb hoffe ich sehr, dass der Prozess gegen Deniz Yücel nun schnell eröffnet wird. Das könnte die Chance bieten. Wir werden weiter Solidarität zeigen und sicher nicht zur Tagesordnung übergehen.
Nicht zur Tagesordnung übergehen – das fordert ihr Hamburger Parteifreund Olaf Scholz auch für die innerparteiliche Debatte in der SPD. Er hat ein Grundsatz-Papier veröffentlicht. Es ist ein deutlicher Vorstoß, der Martin Schulz nicht direkt attackiert – aber durchaus diese Lesart zulässt. Kann die SPD das gerade gebrauchen?
Ich freue mich über das Papier. Es spricht eine klare und verständliche Sprache. Wir haben uns nach der Wahl vorgenommen, dass wir eine offene und tabulose Diskussion führen werden. Über den Zustand der SPD. Über die Ursachen des Wahlergebnisses. Und diese Diskussion ist dringend notwendig. Die darf nicht nur eingefordert werden – sie muss kommen. Wir haben eine große Teamleistung vollbracht, dass wir diese Debatte nicht vor der Niedersachsen-Wahl geführt haben. Aber jetzt muss alles auf den Tisch. Wir dürfen keine Punkte ausklammern. Und das zeichnet das Papier aus. Es kommt deswegen zur richtigen Zeit. Und es wird uns voranbringen.
Es geht auch um einen Kurs: Segelt die SPD mit Schulz nach links oder mit Scholz in die Mitte. Kapitalismuskritik oder Pragmatismus: Wo sehen Sie der SPD?
Ich sehe überhaupt keinen Flügelstreit. Das ist der Versuch, eine umfassende und komplexe Debatte in Schwarz-Weiß-Kategorien zu packen. Es geht nicht um links oder rechts. Olaf Scholz macht seit Jahren eine linke, fortschrittliche Großstadtpolitik. Der Ruf nach möglichst radikaler Kapitalismuskritik ersetzt aber noch lange kein inhaltliches Konzept. Darauf muss man hinweisen. Ich bin stellvertretender Sprecher der Parlamentarischen Linken und ich kann viele Punkte, die Olaf Scholz aufgeschrieben hat, unterstützen. Es wäre ein großer Fehler, wenn die SPD diesen Diskussionsanstoß jetzt nach den üblichen Schubladen versucht einzusortieren. Das hat wenig mit der realen Debatte zu tun.
Scholz fordert eine „schonungslose Betrachtung der Lage“. Er redet von Ausflüchten. Verkennt die Schulz-SPD die Probleme?
Wenn die zentrale Botschaft ist: Wir führen eine grundlegende Debatte, aber das wichtigste ist unsere Geschlossenheit – dann funktioniert das nicht. Eine Partei braucht Geschlossenheit, wenn sie erfolgreich sein will. Ich bin entschieden der Meinung, dass Geschlossenheit nicht dazu führen darf, dass es in der Diskussion Tabus gibt.
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