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Ich möchte ein Gletscher sein

1995 waren die Aeronauten dann plötzlich auch in Deutschland - nein, keine große Band. Aber wohl eine, die mit ihrem neuen Plattenvertrag dort angedockt hatte, wo gedacht wurde, oft auch um die Ecke, wo debattiert wurde und wo man die Sprachräume mit Sätzen austapezierte, die bisweilen der Interpretation bedurften. Die Schweizer Gruppe hatte für ihr Album „Gegen Alles" bei L'Age D'Or unterschrieben, Heimstätte von Tocotronic, Die Regierung und Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs. Das war durchaus erstaunlich, denn vom smarten, aber durchaus fordernden Sound-Kosmos des Hamburger Labels war die Gruppe doch ein Stück weit entfernt.

Songs aus dem Café

„Alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben", sangen Tocotronic. Die Aeronauten sangen: „Ich möchte lieber eine Freundin". Die Sterne sangen „Ich lief durch die Phasen, war im Apparat". „Ich saß tagelang in Cafés herum und trank Kaffee, bis es nicht mehr ging", sangen die Aeronauten. Dazu rumpelten die Gitarren und schmetterten die Bläser in leichter Windschiefe. Die Aeronauten standen mit mindestens genauso vielen Beinen in dem oft geringgeschätzten, jugendzentrumssozialisierten Deutsch- und Skapunk wie in der sogenannten Hamburger Schule.

Warten auf das Spenderherz

Jetzt ist ein neues Album der Aeronauten erschienen. Es trägt den Titel „Neun Extraleben" und ist, was die Umstände angeht, eine sehr traurige Platte, denn es wird die letzte der Aeronauten sein, zumindest die letzte mit ihrem Sänger. Olifr M. Guz starb am 19. Januar in einem Zürcher Krankenhaus. Dort hatte er vier Monate auf ein Spenderherz gewartet. Dieser Krankenhausaufenthalt riss die Band aus fruchtbaren Aufnahmesessions, deren Ergebnisse wir auf dem Album hören.

Ein paar Leerstellen finden sich da, an einigen Momenten scheinen die Songs ins Dunkle zu kippen, aber das ist immer nur dann der Fall, wenn Guz, der mit bürgerlichem Namen Oliver Maurmann hieß, nicht am Mikrofon steht, etwa in „Gletscher sterben leise", einem leisen Instrumental, das von einem Klavier geprägt wird. Das schickt ein paar Töne in den Raum, die von einem Rauschen begleitet werden, nach einer guten Minute gewinnt das Stück an Höhe wie ein Wanderer beim Erklimmen eines Berges. Schließlich legt es sich schlafen.

Rat der Therapeutin

Eigentlich wird die Platte aber von jenem deftigen Wortwitz geleitet, für den man die Aeronauten 25 Jahre lang so sehr liebte: „Die Therapeutin riet mir, etwas zu tun, was mir wichtig ist / Seitdem schreib' ich Hatemails an Arschlöcher, doch ich erzähl's ihr nicht", singt Maurmann, später wiederholt er mantrahaft: „Mir geht's gut. Es geht mir gut."

Oliver Maurmann wurde 1967 auf der deutschen Seite des Bodensees geboren, wuchs aber in der Schweiz auf. Seine ersten Songs veröffentlichte er Mitte der achtziger Jahre auf Kassetten, man kann einige davon auf der 1997 erschienenen Anthologie „In Guz We Trust" hören. Alles rumpelte und bebte in seiner Musik, dass es ein Vergnügen war. Manchmal fühlt man sich an Dan Treacy und seine Television Personalities erinnert.

Weisheit eines Genforschers

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