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Der letzte Steinzeitmensch

Kim lebt 8 Monate im Jahr alleine in der Wildnis Kanadas - wie die Menschen vor 8000 Jahren.

Durch den Abstand zur Zivilisation ist ihm klargeworden, warum unsere Gesellschaft uns nicht glücklich machen kann.

Kim Pasche findet das moderne Leben „furchtbar komplex“. Deswegen sitzt er im Yukon auf dem kanadischen Waldboden vor seiner Hütte aus Gräsern, und schneidet sich die Zehennägel mit einem scharf geschlagenen Feuerstein. Ohne Abzurutschen trennt er das weiße Nagelstück mit dem groben Silex ab. Kim läuft die meiste Zeit barfuß. Zu lange Fußnägel verheddern sich leicht im Gestrüpp. Dass er selbst vor zwölf Jahren im Busch hängen geblieben ist, stört ihn hingegen nicht.

Die größte Distanz, die er sich je von der menschlichen Zivilisation entfernt hat, betrug 700 Kilometer. „Das Leben in der Wildnis ist mein Alltag“, erzählt Kim im Gespräch mit ways2live. "Seit zwölf Jahren lebe ich die meiste Zeit des Jahres im Busch. In der Natur bin ich in Balance mit mir und der Umwelt, in der Zivilisation nicht."

Ledergewand und Bogen auf dem Rücken. Dazu spitze Ohren, hohe Wangenknochen und Pferdeschwanz  – Kims Aussehen erinnert an Legolas aus der Literaturverfilmung „Herr der Ringe“. Doch seine Haare sind nicht weißblond, sondern rötlich. Kim Pasche ist nicht überirdisch. Er steht mit den Beinen auf der Erde.


Wenn er ein Haus braucht, baut er sich eines aus Ästen und Gras. Wenn er Hunger hat, geht er mit Pfeil und Bogen auf die Jagd nach Elchen und Hirschen. Für den Bogen hat er vorher einen Baum gefällt. Mit Werkzeugen, die er selbst hergestellt hat. In der Wildnis ist der 37-Jährige maximal unabhängig von Geld. Er braucht es nicht. Weder für sein Glück, noch, um zu überleben.


Wann immer Kim als Kind unbeobachtet war, ist er abgehauen. In den Wald. Hütten bauen, auf Moos schlafen – nur alleine in der Natur habe er sich vollständig gefühlt, sagt er. Mit 15 zieht der Schweizer zu seinem Opa in eine Hütte am Waldrand. Schule? Das, was wichtig ist, lehrt doch die Natur. Seine Eltern finden, dass sich über diese Ansicht streiten lässt. Aber Kim hat eigene Pläne. Er will weg. Raus. Die ultimative Freiheit in der Wildnis. Komplett autark leben, und das allein. Einen geeigneten Platz dafür fand er nach langer Suche im kanadischen Nirgendwo. Hier ist die Natur fruchtbar und die Gegend abgelegen genug, um seine archäologischen Versuche zu machen.


Wenn Kim überhaupt einen Beruf hat, dann ist er Experimental-Archäologe. Mit Menschen- und  Stammesgeschichte kennt er sich aus. Doch statt sich nur mit Theorie aufzuhalten, probiert Kim die Gepflogenheiten unserer Vorfahren selbst aus – und liefert Schweizer Museen regelmäßig Erkenntnisse über die Ursprünge des menschlichen Lebens. Kim baut zum Beispiel 8000 Jahre alte Werkzeuge nach und berichtet dann, wie sie ihm im Busch nützen.


Während wir gesättigt auf dem rückenstützenden Bürostuhl sitzen und auf die Tastatur hauen, als hinge unser Leben davon ab, geht es bei Kim wirklich ums Überleben. Das Grundbedürfnis Essen muss immer gedeckt sein. Wichtigste Aufgabe in Kims Alltag: Beeren und Blätter sammeln, fischen, mit Stöcken Feuer machen. Manchmal muss er auch töten. Um ein Rentier mit Pfeil und Bogen zu erlegen, muss sich Kim 15 Meter nah an das Tier heranpirschen. Beim Töten empfinde er großes Mitleid und müsse gleichzeitig gnadenlos sein, sagt Kim. "Wenn ich dem Tier in die Augen sehe, während es stirbt, empfinde ich dabei Gefühle, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Es fühlt sich jedes Mal so an, als würde auch ein Teil von mir sterben. Ich zahle dafür einen hohen Preis.“

Doch nicht nur Kim tötet, um zu überleben. Eines Tages wäre er selbst fast gestorben. Eigentlich nimmt Kim nie Waffen mit. An diesem Tag hatte er eine dabei. Als hätte er es geahnt. „Ich kam von der Jagd, hatte ein Karibu über der Schulter geworfen und war voller Blut. Als ich den Bären in der Ferne sah, glaubte ich, es wäre ein Schwarzbär. Ich schrie. Schwarzbären kriegen dann Angst. Doch der Bär ging nicht weg. Plötzlich rannte er in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit auf mich zu. Ein Grizzly. Ich musste auf ihn schießen. Die ersten zwei Kugeln stoppten ihn nicht, er rannte weiter. Erst die dritte – da war er nur noch vier Meter von mit entfernt. Letztlich stellte sich heraus, dass der Bär selbst ein Tier erlegt hatte. Er hat sein Fleisch verteidigt, durch mein Schreien hat sich die Spannung aufgeschaukelt. Es war mein Fehler. Und das einzige Mal, dass mich ein Bär angegriffen hat.“


Die Natur weise ihn immer auf sein Schwächen und sein Nichtwissen hin, sagt Kim. Was er brauche, um zu überleben, hätte er erst mit der Zeit gelernt. Seinen ersten Trip musste er nach zwei Wochen abbrechen. Er war damals 22, nicht genug vorbereitet und „total naiv". Heute weiß er, dass er mit der Rinde der Linde am besten Feuer machen kann, welche Steine sich als Messer eignen, und wie er aus Leder warme Mokkassins anfertigt. Doch die Natur hat noch ganz andere Dinge gelehrt. Zum Beispiel, dass Freiheit nicht bedeutet, unabhängig zu sein. „Früher wollte ich nichts und niemanden brauchen. Die längste Zeit, in der ich keinen Kontakt zu einem Menschen hatte, waren drei Monate. Ich war in der schönsten Natur und habe keine Freude mehr gespürt. Mental war ich am sterben. Das Leben bedeutet nichts mehr, wenn du es mit niemandem teilen kannst."


Das Leben bedeutet nichts, wenn du es mit niemandem teilen kannst.


Um Menschen zu treffen, kehrt Kim daher regelmäßig in die Zivilisation zurück. "Wenn ich meine Sachen packe, um in diese andere Welt aufzubrechen, mit Social Media und all den verrückten Sachen, fühlt sich das für mich wie ein Abenteuertrip an", sagt er. "Trotzdem lebe ich hier wie ihr. Gehe in Bars, fahre Auto. Ihr würdet nicht erkennen, dass ich anders bin. Erst, wenn ihr euch mit mir unterhalten würdet." Die Zeit alleine im Busch habe seine Sicht auf das Wesentliche geschärft, sagt Kim. "Letztens hatte ich einen Autounfall. Niemand war verletzt, es war nur ein Blechschaden. Also war es mir egal. Vor zwei Jahren habe ich meinen Laptop samt Backup verloren. Auch das war mir egal. Ich sehe Menschen regelmäßig wegen solchen Dingen ausrasten. Im Busch geht es um elementare Dinge. Ich muss aufpassen, dass ich nicht erfriere oder verhungere. Das setzt alles in Relation. Meine Erfahrung in der Natur hat mir ein Level an Glück gebracht, dass ich davor nicht kannte. Und sei es nur das Glück, am Leben zu sein."


Seine Gedanken und Erfahrungen gibt Kim an andere weiter. In der Schweiz, Frankreich und Belgien geht er mit Teilnehmern seiner Workshops in den Wald und bringt ihnen bei, alleine in der Natur zu überleben. Für diese Trips macht er keine Werbung, ist nicht in den sozialen Netzwerken vertreten. Alles geht über Mundpropaganda. Das kommt gut an. Denn die Leute, die mit Kim in die Wildnis gehen, wollen zwar lernen, wie man Feuer ohne ein Streicholz entfacht. Noch wichtiger ist es ihnen aber, wieder eine Verbindung zur Natur herzustellen - und zu sich selbst. "Einige Teilnehmer werden nach ein paar Tagen Wildnis verrückt", sagt Kim. "Weil sie zu viel über sich und das Leben nachdenken. Unsere Gesellschaft hat uns nicht beigebracht, alleine zu sein. Dafür muss man mit sich im Reinen sein."







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