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Antonio Ruiz-Camacho: Die tödlichen Früchte der Stadt

Austin, Texas. Aus dem Flugzeugfenster betrachtet, bilden die Straßengitter der Vororte gleichförmige Muster mit akkurat gezogenen Linien. Am Boden angekommen, sucht das Auge in der Vorstadtsiedlung erfolglos nach Anhaltspunkten, die Orientierung in der alles beherrschenden Gleichheit verschaffen könnten. Nordamerikanische Klischees, so weit das Auge reicht. Stars and Stripes- Flaggen an den Fahnenstangen, daneben monströse Pick-up-Trucks. Der Himmel so hell, dass man die Augen zusammenkneifen muss.

Hier, knapp 250 Meilen hinter der mexikanischen Grenze, schrieb Antonio Ruiz-Camacho sein Debüt. Seit zehn Jahren lebt der Journalist und Autor in Texas. Der Innenraum seines Hauses ist eine typisch texanische Mischung aus Mexiko und Nordamerika: Aufgeräumte Spießigkeit trifft knallbunte Totenschreine und Filmplakate. Mexiko ist hier allgegenwärtig: Die Ansagen im Bus sind oft auf Spanisch, manche spanischsprachige Fernsehsender haben höhere Einschaltquoten als amerikanische. Außergewöhnlich ist ein mexikanischer Journalist und Autor wie der 45-jährige Ruiz-Camacho hier nicht. Neben dem Schreiben, etwa für die New York Times über die Migration aus Mexiko, unterrichtet er an der Texas University. Aufgewachsen ist der Sohn eines reichen Unternehmers in Toluca, lebte dann lange in Lomas de Tecamachalco, einem der reichsten Viertel von Mexiko-Stadt, wo man sich durch Zäune, Überwachungskameras und Bodyguards vor der Armut schützt.

Viel nutzen kann das nicht, denn die Armut ist überall in Mexiko. Man kann sich vor ihr einschließen, aber sie sucht sich ihren Weg: Drogenkrieg, Korruption, Entführungen, Lösegelderpressungen, hundert-, tausendfach. "Jeder, der Teil der Elite ist und nichts am Status quo ändert, ist Teil der Probleme in Mexiko", sagt Ruiz-Camacho. Was ihn aus Mexiko vertrieben hat, war die Gewalt, die tägliche Gefahr. Selbst wenn das Lösegeld gezahlt wird, sieht die Familie ihren entführten Angehörigen oft nicht wieder. Um die Forderungen zu unterstreichen, werden abgetrennte Körperteile in Paketen verschickt. "Das ist die schlimmste Art, jemanden zu verlieren", sagt Ruiz-Camacho. "Wenn man nicht richtig Abschied nehmen kann."

Um all das geht es in Denn sie sterben jung. Es ist die Chronik einer Familie in acht Erzählungen, der vorangestellte Stammbaum bindet die einzelnen Geschichten zusammen. Im Zentrum steht der Patriarch der Familie, José Victoria Arteaga. Der steigt eines Mittags vor seinem Bürogebäude in ein Taxi und wird nicht wieder auftauchen. Eine Entführung nach bekanntem Schema. Nach dem Verschwinden des Großvaters flieht der Großteil der Arteagas aus Mexiko-Stadt, die versprengten und verängstigten Familienmitglieder finden sich in Austin, Madrid oder Palo Alto wieder. Gemeinsam sind ihnen nur noch ihre stolze Rückbesinnung auf die zurückgelassene Heimat und die Bilder der Vergangenheit.

Nicht die Entführung selbst - nur eine von so vielen in Mexiko - interessiert Antonio Ruiz-Camacho, sondern die Druckwelle, die von einem solchen Ereignis ausgeht. "Ich weiß selber nicht, was mit dem Patriarchen geschehen ist. Es ist auch nicht wichtig." Es geht ihm um die Mitglieder der Familie, die in Todesangst fliehen und sich in der Fremde zurechtfinden müssen, wo manche ihr Apartment nie mehr verlassen. Jedes Kapitel ist aus der Ich-Perspektive eines anderen Arteaga erzählt; mit jedem weiteren Kapitel vervollständigt sich das Bild der Entführung, gleichzeitig wird die Geschichte um individuelle Erfahrungen und offene Fragen erweitert. "Ich will, dass der Leser nach der Lektüre bemerkt, wie viele Leerstellen es noch gibt", sagt Ruiz-Camacho, "wie viele Geschichten noch nicht erzählt wurden. Dass er sich fragt, welche Auswirkungen die Entführung auf die anderen hatte, vielleicht auch auf die noch Ungeborenen." Und auch auf die, die nicht zum Stammbaum gehören, die Hausangestellten und Dienstboten. Die junge heimliche Geliebte des Patriarchen beispielsweise wird in Mexiko-Stadt bei einem Spaziergang unvermutet Zeugin der grauenhaften Praktiken der Entführer: "Männer in weißen Overalls und blauen Atemmasken standen auf den Hebebühnen der Kräne und bargen Dutzende menschlicher Gliedmaßen, die an den Bäumen am Rande der Periférico hingen, so als seien abgetrennte Arme und Beine von Körpern, die niemand je finden würde, die neuesten Früchte der Stadt."

Für deutsche Leser ist es eine eher unbekannte Welt: die der Menschen aus den sehr wohlhabenden Vierteln Mexikos; Menschen, die im Exil mit trotzigem Stolz ihren nutzlos gewordenen Privilegien-Panzer weiter mit sich tragen. Antonio Ruiz-Camacho hat die Geschichten dieser Wohlstandsexilanten auf Englisch aufgeschrieben, seiner zweiten Sprache. Er selbst hat dann seinen Text ins Spanische übersetzt, "rückübersetzt", wie er sagt. Es ist das Paradoxon, das Menschen erleben, die lange im Ausland leben: Muttersprache und Fremdsprache vermischen sich auf verwirrende Art. "In meinem Kopf haben die Figuren das Spanisch aus Mexiko-Stadt gesprochen, diesen sehr speziellen Dialekt mit eigenen Phrasen und Ausdrücken. Aber geschrieben habe ich auf Englisch, ich musste also auch auf Englisch denken. Als ich dann den Text ins Spanische übertragen habe, merkte ich, wie schwer das ist."

Seine größte Sorge: dass Mexiko-Stadt ihn ausgestoßen hat wie die Familie Arteaga und dass er genauso wie sie nie wirklich ankommen wird an einem anderen Ort.

Antonio Ruiz-Camacho: Denn sie sterben jung Stories; aus dem Englischen von Johann Christoph Maass; C. H. Beck, München 2018; 205 S., 19,95 €, als E-Book 15,99 €

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