Wenn Menschen heutzutage in Günther Jauchs Fernsehsendung sitzen, geht es meist um einen Millionengewinn. Auch Hannelore Kraus saß schon bei Günther Jauch. Damals moderierte der noch eine Gesprächsrunde im ZDF, 30 Jahre ist das her. Bei Kraus ging es auch um sehr viel Geld. Doch sie hatte damals gerade eine Millionensumme abgelehnt. Angeboten hatte den Betrag ein Immobilieninvestor, der Preis dafür sollte Kraus' Unterschrift sein. Die Entwicklungshelferin aber weigerte sich, ihre Einwilligung zum Bau des höchsten Gebäudes Europas direkt vor ihrer Tür zu geben. Hannelore Kraus wurde berühmt als die Frau, die den Bau des Campaniles, eines 260 Meter hohen Turms südlich des Frankfurter Hauptbahnhofs, verhinderte. Am Freitag wird sie 80 Jahre alt.
Die Deutsche Bahn, die als Hauptmieter des Hochhauses gehandelt wurde, musste sich damals nach neuen Räumen umschauen. Hannelore Kraus ist geblieben. Bis jetzt, im hohen Alter, betreibt sie gemeinsam mit ihrer Schwester die Pension Aller im Gutleutviertel. Was hat sie damals dazu bewogen, das Angebot des Investors Fay und Ernst abzulehnen? „Mir ging es um das Viertel", sagt Kraus während des Gespräch in ihrer Pension. „Schon immer gab es hier eine bodenständige und einfache Bevölkerung. Man unterstützt sich gegenseitig und kann sich aufeinander verlassen. In den achtziger Jahren sind viele Ausländer ins Viertel gezogen. Sie hatten, wie auch die alteingesessenen Bewohner, wenig Geld. Und alle diese einfachen Leute wären über die Klinge gesprungen, hätte man den Turm gebaut."
Widerstand einer EntwicklungshelferinEines Tages klingelten zwei Vertreter von Ernst und Fay bei Kraus. Einer davon war Valentin Weber, der Mann, den Günther Jauch 1989 ebenfalls in die Sendung eingeladen hatte. Erst drei, später acht Millionen Mark hätten die Bauträger geboten, erzählt Kraus. „Sie müssen in ihrem Leben immer unterscheiden, was in ihrem Privatinteresse liegt und was sie für eine größere Allgemeinheit für richtig und sinnvoll halten." Den Satz, den die 1939 geborene Frankfurterin damals vor der Kamera sagte, hat sie heute noch in Erinnerung. „Was hätte ich mit dem Geld machen sollen? Mir Aktien an die Wand hängen?", sagt sie und lacht. Ihr sei es um die Nachbarschaft gegangen. Wegen des Turms - Kraus spricht das Wort „Tuuhrrm" aus - hätten die umliegenden Hauseigentümer ihre Immobilien verkaufen müssen, die Mieter wären weggezogen, das Viertel wäre viel teurer worden.
Hannelore Kraus blickt auf ein bewegtes Leben zurück. In den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs geboren, wächst sie im zertrümmerten Frankfurt auf. Dort beginnt sie später ein Studium, lauscht Vorlesungen von Horkheimer und promoviert bei Adorno. Als Entwicklungshelferin folgen Jahre in Afrika und Lateinamerika. Immer wieder wartet sie im Gespräch mit Episoden auf, die wenig mit dem Campanile zu tun haben. Der Widerstand gegen das Bauwerk scheint, während sie aus ihrem Leben erzählt, wie eine wenig bedeutende Randnotiz.
Priorität: Gegenseitiger RespektKraus beginnt die Sätze mit einem scharfen „Passen Sie auf", dann folgen Geschichten von ihren Eltern, von ihren Lehrern, Gedanken über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Kraus fängt im Frankfurt der vierziger Jahre an und spricht wenig später schon über die Bedrohung nationalistischer Politiker im Hier und Jetzt, von „Vogelschiss-Gauland" und dem „Mafia-Mann" im Weißen Haus. Kraus erzählt all das nicht, weil sie verwirrt ist, sondern, weil sie einen Punkt machen möchte: „Mir ging es beim Zwischenmenschlichen immer schon um gegenseitigen Respekt. Das haben die Leute von Ernst und Fay mit ihren Angeboten nicht verstanden. Und deshalb haben sie bei mir auf Granit gebissen."
Das höchste Gebäude Europas scheiterte an mangelndem Respekt? Ist es wirklich so einfach? Andreas Fay von der heutigen Firma Fay hat der Deutschen Presseagentur unlängst gesagt, dass vor allem die Stadt den Campanile verhindert habe, indem die Bearbeitung durch die Planungs- und Bauverwaltung eingestellt worden sei. Dass der Turm alleine an Kraus gescheitert sei, nennt Fay eine Legende, die unter anderem der damals neu gewählte rot-grüne Magistrat erfunden habe. Auch seien die gebotenen Summen seiner Erinnerung nach niedriger gewesen. Auf Architekten-Foren im Internet gibt es seit Jahren Diskussionen, wer das Projekt schließlich verhindert habe - und es gibt auch Stimmen, die dem Campanile nachtrauern. Damals sei eine große Chance für die Stadtentwicklung vertan worden. Kraus habe sich als Einzelperson angemaßt, für das Wohle der Allgemeinheit zu handeln.
Fest steht: Kraus hatte zumindest einen großen Anteil daran, dass der Turm damals nicht gebaut wurde. Während in der Jauch-Sendung von 1989 der Applaus zum Ende des Gesprächs einsetzt, schiebt Valentin Weber noch ein zweifaches, recht selbstsicheres „Wir werden bauen", nach. Kraus verzieht das Gesicht und schaut zur Seite. Weber hingegen lächelt und gestikuliert mit beiden Hände, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.
Die Geschichte sollte ihn eines Besseren belehren. Nur wenige Wochen nach der Aufzeichnung der Sendung war das Projekt Campanile gestorben. Anstatt eines Wolkenkratzers steht auf dem Areal mittlerweile ein Parkhaus nebst Busbahnhof. Besonders schön sei das nicht, meint Kraus. „Der Platz ist nicht der Rede wert." Aber das Viertel, mit seinen Ecken und Kanten, sei erhalten geblieben. Auch in der Pension Aller brennt noch Licht.