"Es braucht nur einen Einzigen", sagt Masoud Aqil leise. Ein Einziger könne sich ein Messer schnappen und damit auf Menschen einstechen. Oder er könnte einen Kleinwagen anmieten und damit in eine Menschengruppe rasen. "Dafür brauchst du keine Armee, es reichen manipulierte Einzeltäter." Von diesen Einzeltätern gebe es Hunderte, direkt vor unserer Haustür in Deutschland, sagt Aqil. Er sitzt in einem Café in einer Stadt in Norddeutschland und kritzelt die Umrisse seiner Heimat auf einen Block. Aqil spricht von Kriegsverbrechern und Terroristen, die in dem "Islamischen Staat" (IS) angehörten - und bald Anschläge in Europa verüben könnten.
Masoud Aqil ist syrischer Kurde, Jahrgang 1993. Er wuchs als jüngstes von sieben Kindern im Nordosten Syriens auf. In seiner Heimat Qamischli arbeitete er als Foto- und Videojournalist für den kurdischen Fernsehsender Rûdaw. Im Dezember 2014 war er auf dem Weg zu einem Interviewtermin mit einem Scheich, als ihn Schergen des IS verschleppten. Neun Monate lang wurde er an verschiedenen Orten gefangen gehalten, in einem Foltergefängnis unterhalb des Fußballstadions in Rakka verbrachte er mehr als drei Monate. Während seiner Gefangenschaft wurde Aqil gedemütigt, geschlagen und gefoltert.
In der Zeit erfährt Aqil aber auch vieles über seine Peiniger. Er teilt sich Zellen mit Abtrünnigen, die eigentlich mit dem IS sympathisierten, aber wegen kleineren Verstöße inhaftiert wurden. Ob die Kämpfer aus Tunesien, Syrien, Großbritannien oder Frankreich stammen, erkennt er an dem Akzent, mit dem sie Arabisch sprechen. Er hört Prahlereien der IS-Anführer, etwa, als der Geheimdienstchef Abu Mohammad al-Adnani den IS-Anhängern in einer Ansprache verspricht: "Wir werden die Zentren der Ungläubigen, die europäischen Hauptstädte, attackieren." Aqil lernt das Koranverständnis der Dschihadisten kennen: Sein Oberlippenbart wird gestutzt, Aqil, selbst überzeugter Atheist, gezwungen, fünf Mal am Tag zu beten.
Im September 2015, nach 280 Tagen Gefangenschaft, ruft ein Aufseher des IS seinen Namen. Aqil wird gefesselt, auf die Ladefläche eines Vans gekarrt und in die Wüste von Al-Hassaka gefahren. Dort setzen ihn die Dschihadisten auf das Motorrad eines Menschenschmugglers. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs wird Aqil gemeinsam mit sieben YPG-Kämpfern an kurdische Einheiten übergeben. Nach neun Monaten Gefangenschaft ist Aqil wieder frei. Am 21. September kehrt er zu seiner Familie zurück.
Berufsbezeichnung: "Diener Allahs"Doch der Norden Syriens, das merkt die Familie Aqil, ist nicht mehr sicher. Im Dezember 2015, drei Monate nach seiner Befreiung, flieht Aqil gemeinsam mit seiner Mutter nach Deutschland. Von Syrien aus gelangen sie in die Türkei. Dort versuchen sie mehrere Male, die Ägäis zu überqueren, schaffen es aber erst beim dritten Anlauf. Von Griechenland aus fliehen sie auf dem Landweg nach Bulgarien, und weiter über Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland. Die ersten Monate teilen sich Aqil und seine Mutter gut zehn Quadratmeter in einem Flüchtlingsheim.
In dieser Zeit erreicht Aqil der Anruf eines Freundes. Dieser macht ihn auf eine Facebook-Gruppe aufmerksam, in der Fotos von IS-Mitgliedern aus Aqils Gefängniszeit geteilt werden. Als Aqil sich die Bilder anschaut, erkennt er einige Dschihadisten wieder. Bald findet er immer mehr Facebook-Profile von IS-Anhängern, die nun in leben.
"Viele Dschihadisten sind ziemliche Idioten", sagt der 24-Jährige heute. "Sie stellen ihre geisteskranke Ideologie öffentlich zur Schau." Oftmals glichen ihre Facebook-Profile Abziehbildern: Auf ihren Pinnwänden huldigten sie gerne verstorbenen "Märtyrern", in öffentlichen Kommentarspalten bezeichneten sie Europäer und Juden als Ungläubige oder "dreckige Hunde". Als Berufsbezeichnung wählten sie gerne "Diener Allahs". Und auch beim Teilen von Propagandavideos und Gruppenmitgliedschaften findet Aqil wiederkehrende Muster.
Mörder leben unbehelligt in EuropaAqil nimmt Kontakt mit ehemaligen Gefangenen auf und fragt nach einstigen IS-Mitgliedern, die nach Europa aufgebrochen sind. Er vernetzt sich mit kurdischen Militärführern und Geheimdienstlern aus seiner Heimat. Er informiert Kriminalämter über die Facebook-Profile. "Ich konnte nicht mit ansehen, wie Mörder und Schwerverbrecher aus Syrien die Gastfreundschaft ausnutzen und unbehelligt in Europa leben können", sagt Aqil.
So wie ihm geht es vielen Flüchtlingen: Zwischen Januar 2016 und April 2017 sind dem Bundeskriminalamt (BKA) über 900 Hinweise auf Angehörige, Mitglieder und Kämpfer von terroristischen Organisationen eingegangen. Daraus resultierten 40 Ermittlungsverfahren, 160 stehen noch aus. "Seit Beginn der Flüchtlingskrise gab es einen rasanten Anstieg von Hinweisen", sagt das BKA. Auch der Verfassungsschutz spricht von einem "exponentiellen Wachstum an Hinweisen seit August 2015".
Ob diese Hinweise den Behörden allerdings wirklich helfen, darf bezweifelt werden. Der Großteil sei "nicht gehaltvoll" und "schwer verifizierbar", sagt das BKA. Dazu kommt, dass oft persönliche Interessen und Fehden zwischen Flüchtlingen die Motivation für Hinweisgeber sei. "Die meisten Hinweise kommen von Menschen, die der deutschen Sprache nur bruchstückhaft mächtig sind", sagt ein Verfassungsschützer, der nicht namentlich genannt werden will. Die Namen von möglichen Islamisten würden zumeist nur mündlich überliefert, sodass es einen Abgleich verschiedener Schreibweisen bräuchte. Identitäten seien schwer überprüfbar, weil die Verdächtigen oft verschiedene Identitäten hätten und mehrere Pässe benutzten. Dem Verfassungsschützer zufolge handele es sich um einen "enormen Ermittlungsaufwand" und "Sisyphusarbeit".