Es ist drei Uhr nachts, doch Izmulla A. ist hellwach. Ihm bleibt noch eine halbe Stunde bis zum Fadschr, dem Gebet in der Morgendämmerung. Bis es soweit ist, sitzt er in einer kleinen Stube im Norden und chattet. Der Raum ist kaum größer als eine Besenkammer: ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl. Izmulla A. muss vorsichtig sein. Sein Vermieter hat ihm das Beten verboten. Seinen Bart musste er auch trimmen.
Immerhin: Izmulla A. ist frei. Das ist nicht selbstverständlich. Die vergangenen sechs Monate hat er in einem deutschen Gefängnis verbracht. Izmulla A. saß in Abschiebehaft. Der Bremer Landesverfassungsschutz wirft ihm vor, er habe eine "schwere staatsgefährdende Straftat" geplant. Izmulla A. steht unter dem Verdacht, ein Terrorist zu sein. Deshalb wurde der Mann aus am 4. September nach Russland abgeschoben.
Dagestaner, das sagt sich so leicht. Izmullas Eltern kamen aus der russischen Teilrepublik, die im Süden an den Kaukasus grenzt und im Osten ans Kaspische Meer. Izmulla wurde dort 1999 geboren. Doch er war erst drei Jahre alt, da emigrierten seine Eltern nach Bremen. 15 Jahre hat er in Deutschland gelebt, ist in eine deutsche Grundschule gegangen, später auf ein deutsches Gymnasium, hat in einem deutschen Verein Judo trainiert und für den Club regelmäßig die Finale von Landeswettkämpfen erreicht.
Digital radikalWie wurde aus dem russischen Einwandererjungen ein mutmaßlicher islamistischer Terrorist? Und hat denn niemand gemerkt, was mit ihm vorging? Doch, gemerkt haben viele, das etwas nicht stimmte mit Izmulla A. Aber was es war, hat lange keiner verstanden.
Michael K. kennt Izmulla A., seit er acht Jahre alt ist. Er hat ihn lange trainiert. K. ist ein tätowierter, durchtrainierter Mann Mitte 40, der es als Judokämpfer weit gebracht hat. Er hat Izmulla zu vielen Meisterschaftskämpfen begleitet. War das Geld bei Izmullas Eltern knapp, übernahm K. Reise- und Übernachtungskosten, weil er "den Jungen fördern" wollte.
Einfach scheint das nicht gewesen zu sein. "Izmulla war isoliert. Seine wenigen Freunde kamen aus dem Judoverein oder waren Landsleute. Kontakt zu Mädchen hatte er kaum", erzählt Michael K. Gleichaltrige hätten schnell gemerkt, dass der schmächtige, aber talentierte Judokämpfer "introvertiert ist und gewisse Macken hat". Dem Jungen sei es schwergefallen, Zusammenhänge zu verstehen.
Teenagerhochzeit"Jeder Blinde sah von Weitem, dass Izmulla zwar gutmütig, aber nicht der hellste war", sagt K. Dass Izmullas Mutter ihn nach der 4. Klasse aufs Gymnasium schickte, hält K. für einen Fehler. "Damals verschlechterten sich seine Schulleistungen. Und er fand nur schwer Anschluss an Mitschüler", erinnert sich der Trainer.
Izmulla A. tat, was viele einsame Teenagerjungs machen: Er flüchtete sich ins Digitale. Seine Abende verbrachte er im Internet, anfangs vor dem PC, später am Smartphone, er spielte Computerspiele und las in sozialen Netzwerken. Sein enger Freund Samir F. berichtet, dass Izmulla A. damals fast seine gesamte Freizeit am Computer verbrachte.
Und er begann, sich für den Islam zu interessieren. Da war er 13 Jahre alt. Wie viele Nordkaukasier ist Izmulla A. Muslim, aber damals war er nicht sonderlich gläubig. Den Koran hatte er nie wirklich gelesen. Nun nannte er sich auf Abdulhamid Bremen, später Izmulla Al Dagesthany. Er folgte Hunderten Seiten, die sich mit dem Islam beschäftigen, darunter Accounts der islamistischen LIES-Missionierungskampagne oder radikalen Salafistenpredigern wie Abu Abdullah oder Sheikh Abdellatif. Wie ein "echter Moslem" zu beten habe, lernte er aus YouTube-Videos, etwa vom radikalen Prediger Pierre Vogel.
Auf Instagram lernte Izmulla Sidney E. kennen, eine deutsche Konvertitin. Sie wurde seine Freundin. Sidney hatte, so heißt es aus Sicherheitskreisen, zuvor eine Beziehung mit einer Person geführt, die dem "salafistischen Spektrum" zugerechnet wird. Die Teenagerin verhüllte sich, später heirateten die beiden Jugendlichen sogar nach islamischem Recht. In dieser Beziehung sieht der Verfassungsschutz ein "Indiz für eine tiefgreifende Radikalisierung".