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Alles über 2812

Der Melkstand: Höhepunkt des Tages für 2812. (Foto (c) Heinrich Holtgreve)

Sie heisst Sunshine und ist wunderschön. Wir haben uns im Netz kennengelernt. Nicht auf Facebook, nicht auf Tinder, "Herde" heisst die App, in der ich ihr Profil fand. Ich las dort, was sie so tut, wie sie so arbeitet und wer die Väter ihrer Kinder sind. Sie kommt aus der Nähe von Osnabrück, ist fünf Jahre alt, zurzeit etwas zu dick. Das war mir so sympathisch, dass ich beschloss, sie zu treffen. Deshalb sitze ich jetzt im Auto, 300 Kilometer Fahrt, dreieinhalb Stunden, hin zu meiner Netzbekanntschaft Sunshine, einer Milchkuh.

Noch kann man Kühe nicht "liken", "faven" oder "adden". Aber man kann sie stalken. Ihre Daten sind im Netz, im Internet der Kühe. Es sind abgeschlossene Bereiche unseres Netzes, in denen die Kühe mit dem Melkstand und die Kälber mit dem Futterautomaten kommunizieren. Man wird nicht hereingelassen, wenn man nicht Landwirt ist oder Veterinär. Aber der Landwirt Ulrich Westrup hat mir Einblick in sein Hofnetz gewährt.

Statt eines Profils haben Kühe eine Stallkarte. Sunshine also ist eine Kreuzung aus Legend und Silver. Einer ihrer Urgrossväter hiess Manfred-ET, ein anderer Mtoto. Auf dem Hof ist sie Tier 2812, Transpondernummer 98400000001748257. Sie hat auch eine Lebensnummer, die DE0354582812. Geboren ist Sunshine am 2. Dezember 2010, das letzte Kalb bekam sie am 13. Februar 2016. Ihre Rasse ist "Holstein-Sbt.", Holstein schwarzbunt, eine der am meisten verbreiteten Milchkuhrassen der Welt. Keine "Melkbarkeitsprüfung", keine "Prämierungen", aber zwei "Exterieurbewertungen" sind da noch verzeichnet. Standardmässig bekommt sie kein Antibiotikum ins Futter gemischt, sondern nur, wenn sie krank wäre. Doch Sunshine war nie krank. Sie wurde nach den Geburten vorsorglich am Euter behandelt. Sie ist "BVDV-unverdächtig", und unverdächtig ist gut, denn BVDV ist das "bovine Virusdiarrhö-Virus": eine unangenehme Art von Durchfall. Das verrät Google.

Nur schon dieser Name: Wikipedia kennt den Jazzklarinettisten Monty Sunshine und die amerikanische Wrestlerin Valerie French, Kampfname Sunshine. Sunshine aber, die Kuh zwischen Jazz und Wrestling, lebt in der deutschen Milchregion Oldenburg ein konventionelles europäisches Kuhleben, fernab vom Bio-Idyll oder der Schweizer Milch-Enklave. Etwas mehr als 25 Cent bekommt ihr Bauer für einen Liter ihrer Milch, 35 Cent müssten es sein, damit es sich rechnete, sagt er.

Eine Website unter dem Namen "Health Detail Overview" gibt Auskunft über Sunshines Fresszeiten. Ein Kasten an ihrem Hals, so viel weiss ich, enthält einen Funkchip. Der arbeitet ähnlich wie ein Fitnessarmband. Ein Kippsensor registriert die Zeit, in der Sunshines Kopf zum Fressen unten ist. Es gibt inzwischen ausgefuchste Systeme, die den Kaumuskel der Kuh überwachen und somit auch das Wiederkäuen. Fast fünf Stunden täglich hat Sunshine zwischen dem 5. April und dem 14. April gefressen, sie liegt damit auf einer Höhe mit ihrer Gruppe. Ein Blick in die genaueren Fressdaten der letzten 24 Stunden: Sie frisst um 16 Uhr, dann von halb acht bis acht, einmal kurz vor Mitternacht. Eigentlich zu denselben Zeiten wie ich, denke ich. Kurz vor vier Uhr morgens frühstückt sie, kurz vor acht nimmt sie ein zweites Frühstück ein, um elf ein rasches Mittagessen. Das zeigen die blauen Striche ihres Diagramms, dazwischen vermutlich: Wiederkäuen.

Sunshine ist fleissig, aber keine Streberin. Das verrät die wichtigste Seite im Internet der Kühe, die Milchkurve. Wie ein guter Börsenwert steigt sie bei Sunshine seit Geburt des ersten Kalbes an. Weltweit gesehen ist Sunshine eine Spitzenkuh, aber ihre Stallgenossinnen sind durchschnittlich noch ein wenig produktiver; sie geben mehr als 12 000 Kilo Milch im Jahr. Sunshines bisherige Rekordleistung erreichte sie am 3. April 2016: 60,5 Kilo.

Jeder Zug ihres Wesens, jeder Fleck ihres Leibes ist in den Datensätzen beurteilt und festgehalten: Beim Melken sei Sunshine ruhig, ist dort vermerkt, ihre Hinterbeinwinkelung sei weder gewinkelt noch klar, sondern mittig, ihre Eutertextur "drüsig beadert". Ihr Milchcharakter ist "scharf und edel" - wobei sich das aufs Aussehen des Euters, nicht auf den Geschmack der Milch bezieht. Ihre Vordereuteraufhängung ist fest.

Der Kasten um Sunshines Hals misst auch, ob der Kopf Bewegungen macht, die für ein stieriges Rind typisch sind; so wird der Zeitpunkt für die Befruchtungen festgestellt. Ihr erstes Mal hatte Sunshine mit Summer im Dezember 2011. Sunshine und Summer, das klingt wie ein Paar aus einer Telenovela, doch romantisch war es nicht. Die moderne Milchkuh wird besamt von einer behandschuhten Hand, mit tiefgekühltem Sperma aus dem Katalog. Sunday, Select, Balisto, Eraser und Modeco hiessen die weiteren Spender in Sunshines Leben. Ein "TU+" im Kalender gibt an, wann sie trächtig war, die Befruchtung klappte jedes Mal sehr schnell. Nur letztes Jahr waren fünf Versuche nötig. Fünf Versuche sind gefährlich. Eine Milchkuh, die keine Kälber bekommt, gibt keine Milch. Und eine Milchkuh, die keine Milch gibt, wird remontiert, ausgemustert, der Verwertung zugeführt.

Einmal hat sie den Hof verlassen und ist zu einer Schau gefahren. Deshalb gibt es ein Foto auf kuh-momente.de. Dort sehe ich Sunshine zum ersten Mal: Eine prächtige Kuh, weiss wie ein Schimmel, mit wenigen schwarzen Sprenkeln am Hals. Sie trägt ein Halfter, zwei kräftige, behaarte Arme halten ihren Kopf in die Höhe. Vermerkt sind das Datum, der 26. März 2013, und ihre Nummer: "03.54562812 v. Legend". Der Schwanz ist zum weissen Puschel gebürstet. Eine stolze Milchkuh vor Fototapete mit Landschaft, der Rücken so gerade, als wäre er mit dem Lineal gezogen.

Ich biege auf den Hof ein. Die Kühe sieht man sofort: Sie stehen in einem an den Seiten offenen Boxenlaufstall. Es riecht nach Marmelade, das ist die Silage, die im Futtergang vor den Kühen liegt. Spatzen tschilpen, Tauben gurren, die Kühe sind still. Sie strecken ihre Köpfe der Futterbahn entgegen. Schwarz-weiss, braun-weiss, Weiss mit etwas Schwarz, fast ganz weiss. Welche ist Sunshine? Eine Kuh, Ohrmarke 3784 kommt näher und streckt ihr feuchtes Maul durchs Gitter. Kuh 4044 guckt interessiert.

Über 1600 Tiere leben in den Ställen der Westrup & Koch Gbr, dem Zusammenschluss von drei Familien. Neben den fünf Gesellschaftern arbeiten elf Menschen im Betrieb. Die Hälfte der Tiere gibt Milch, die anderen sind Kälber und Färsen, Rinder, die noch nicht gekalbt haben. Ein Stall mit 1600 Tieren mag für europäische Verhältnisse gross klingen, im Weltmassstab ist das klein: Längst gibt es Megaställe in den USA mit 30 000 Tieren oder in Saudiarabien mit 40 000 Tieren. China baut gerade eine Megafarm mit 100 000 Tieren und einer angeschlossenen Molkerei. Seit dem Wegfall der Milchquote sind diese gigantischen Fabriken direkte Konkurrenz der europäischen Milchbauern. Dabei kann sich eine Kuh rund 80 Artgenossinnen einprägen. Das ist die natürliche Herdengrösse, in ihren Genen programmiert. Werden es mehr Tiere, ist sie verwirrt. Die moderne Landwirtschaft nutzt das: Grössere Herden sind ruhiger, die Kühe können sich keine Rangfolge merken.

Der Landwirt Ulrich Westrup fragt: "Wollen Sie vorher noch mal ein Bild sehen?" Im Stall hat er ein Büro eingerichtet, seine Steuerzentrale. Auf dem Schreibtisch stehen mehrere Computer, daneben hängt ein transparenter Schaltschrank, unter dem Schreibtisch ein weiterer. Durch ein Fenster blickt Westrup in den Kuhstall. Über den Computer mit den abgegriffenen Tasten organisiert er das Leben jeder Kuh: Dort wird sie das erste Mal erfasst und amtlich gemeldet. Dort wird sie überwacht. Und schliesslich aussortiert.

Dann die Überraschung. An der Wand hängt das Bild von Sunshine, das ich bereits kenne. Es war das Plakat einer Kälberauktion. Sunshines erstes Kalb, erklärt Westrup, ihr Sohn mit dem Stier Summer, auf dem Plakat "Katalog-Nr. 49", hat 11 000 Euro eingebracht. Daneben prangt ein Bild von Sunshines Mutter Silver, sie hatte viele schwarze Fleckchen. So nah wie hier waren sich die beiden Tiere in ihrem Leben nie. Die genetische Mutter steht in den USA, Sunshine kam als gefrorener Embryo nach Niedersachsen und wuchs in einer Leihmutter heran.

Der Landwirt hat viele Kuhfotos, sie liegen in einer Schublade. Nur Sunshines Bild hängt an der Wand. Sie ist seine Lieblingskuh. Warum? "Eine Frau suchen Sie ja auch nicht nach wirtschaftlichen Kriterien aus", sagt Westrup. Bei Sunshine seien es der Zuchtwert und ihre Gutmütigkeit, die sie zu einer Favoritin machen. Doch auch das wird sie nicht retten, wenn sie nicht mehr trächtig wird.

Ich weiss alles über sie, während Sunshine nichts von allem weiss. Nie sieht sie eine Weide, nie wird sie Regen oder Schnee auf dem Fell spüren, nie in der prallen Sonne stehen. Ihr Leben spielt sich unter diesem Dach ab: Fressen, gemolken werden, sich an die Kuhbürste stellen, das sind die Konstanten. Sie frisst ein Gemisch aus Silage und Kraftfutter, das vom Tierarzt je nach Lage der gesammelten Daten einmal wöchentlich angepasst wird. Jetzt sehe ich die blauen Boxen, die alle Kühe um den Hals tragen: Sie hängen dort, wo in Bilderbüchern die Glocken hängen. Die Transponder weisen schon die Kälber gegenüber dem Futterautomaten und die Kühe gegenüber dem Melkstand aus. Einmal im Monat werden Fettgehalt, Eiweissgehalt und die Keimzahl ihrer Milch ermittelt.

An der Stalldecke entdecke ich einen Kasten mit Antenne. Er blinkt blau, wenn er die Daten eines Transponders empfängt. Die Empfangsstation steht bei Ulrich Westrup in der Zentrale. Wenn eine Kuh trächtig ist, bekommt sie ein Vaginalthermometer. "Vel'Phone" heisst die Technologie, mit der die Kapsel eine SMS ans Smartphone des Bauern schickt, wenn die Geburt kurz bevorsteht. Neun von Sunshines Stallgenossinnen tragen ausserdem einen Sensor für den pH-Wert im Pansen. Ob die Verdauung gut klappt: Das ist das Mass, mit dem man Kuhglück bald direkt messen soll.

Die Daten laufen zusammen in einem Stück Software. Entwickelt wird es in Ketzin in Brandenburg, einem Ort, wo nichts an Silicon Valley erinnert. Im alten Kuhstall des unbedeutenden Schlosses Paretz sitzt das Unternehmen Data Service Paretz GmbH, kurz DSP. Es ist die Firma hinter der Herdenmanagement-Software "Herde", die Kuhdaten bündelt. Hier finden die Daten vom Melkstand und den Hals-Transpondern, vom Labor für die Milchprüfung, von der Bewertung und dem Futtermischer zusammen. Eine Art SAP-System für Landwirte, jedes Tier ein Datensatz. Über eine Million Kühe werden mit Hilfe der Software täglich erfasst. Ihre Vorläufer hat die Firma im Rechenzentrum für Viehzucht der DDR: Die Planwirtschaft brauchte exakte Daten. Thorsten Huhne ist einer der Geschäftsführer. Er kennt seine Kunden persönlich. Also die Bauern. Von Sunshine hat Huhne natürlich noch nichts gehört. Der Umgang mit Kuhdaten sei einfach, sagt der junge Mann, "weil für Kühe kein Datenschutz gilt". Andererseits sei er heikel, weil an den Daten Existenzen hängen. Wenn Huhnes Systeme abstürzen, geht auf vielen Höfen nichts mehr: Melken, füttern, besamen, alles steht still. Die Daten sorgten für mehr Tierwohl, sagen die Befürworter. Keine Kuh geht mehr unter, und jede Krankheit wird erkannt. Die Daten seien der nächste Schritt hin zu einer vollindustrialisierten Landwirtschaft, sagen die Kritiker. Die Vollverdatung der Kuh steht kurz bevor. Jedes Tier wird individuelle Futtermischungen bekommen oder den angepassten Sog eines Melkroboters.

Jetzt aber hinaus, die Reihe der Kühe abgeschritten. Sie stehen dicht an dicht. Gelbe Ohrmarke rechts, gelbe Ohrmarke links. Vorn auf dem linken Ohr steht mit Filzschreiber der Vater, hinten die Mutter. Der Name der Kuh steht dort nicht. "Das ist die unwichtigste Information", sagt der Bauer. Sie hat ja ihre Nummer. Wo ist 2812, wo ist Sunshine? Zwanzig, dreissig Kuhköpfe ziehen vorbei.

Dann stehe ich vor ihr. Ich erkenne sie sofort, den weissen Hals, die schwarzen Sprenkel. Sunshine frisst gerade. Sabber tropft ihr aus dem Maul. Ich mustere sie, streiche ihr über den Kopf. Sie fühlt sich borstig an und fremd. Aber sie lässt sich gern hinter den Ohren kraulen. Zeit, sie zu betrachten: Sunshine ist gross. Ihr Rücken hat eine deutliche Delle. Ihr Kopf ist bulliger geworden mit den Jahren. Auch ihr Euter ist inzwischen grösser als auf dem Bild.

Zur Melkzeit schieben sich schwarz-weisse Leiber Richtung Melkstand. Sunshines weisser Rücken ragt aus der Herde heraus. Sie steht am Rand, geht erst mit der letzten Runde. Die anderen Kühe scheuen und schauen, wer da Ungewöhnliches steht. "Kühe mögen keine Abwechslung", sagt der Bauer, "und auch keine Überraschungen. Aber sie sind furchtbar neugierig." Vierzig Kühe können im Melkstand gleichzeitig gemolken werden, zwanzig auf der einen, zwanzig auf der anderen Seite. Schliesslich steht Sunshine rückwärts in Melkstand Nummer 36. Man sieht Hinterbeine, Schwanz, Euter, darüber ein Display, das ihre Nummer anzeigt, 2812, darunter die Milchmenge. Es ist kein vollautomatischer Melkroboter; das Melkzeug wird noch von Hand angesetzt. Weil es schneller gehe, sagt der Bauer, und billiger als ein Roboter sei. Noch. Die Gülle hingegen wird längst automatisch entsorgt. Der Gülleschieber befördert sie durch die Ritzen im Boden direkt in die hofeigene Biogasanlage, die 650 Kilowatt Energie liefert.

Eine Hand in einem blauen Handschuh wischt Sunshines Euter mit einem blauen Schwammtuch ab, steckt das Melkgeschirr aufs Euter. Das Display zeigt, wie die Milch fliesst. 0,9 Kilo, 1,1 Kilo, auf 24,7 Kilo bringt sie es, dann fällt das Melkgeschirr mit einem Zischen ab. 0,7 Kilogramm mehr als gestern, steht auf dem Display. Beim Hinausgehen steht Sunshine einen Moment still, schaut mich aus ihren dunklen Kuhaugen an. Es ist, als würden wir uns kennen.

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