Ganz am Anfang war es, als hätte uns selbst ein Zug überrollt", sagt Susanne H. „Wir waren vollkommen benommen, wussten nicht, was wir denn nun tun sollen. Am Ende ist es eben irgendwie weitergegangen. Wir haben überlebt." Susanne H. wohnt mit ihrem Mann Gus in Tübingen und ist Mutter von drei Kindern. Joshua ist 23 Jahre alt und ihre Tochter Theresa 16 Jahre. Julian wäre heute 27. Es ist sieben Jahre her, dass er sich das Leben genommen hat.
Im Winter vor seinem Abitur hatte es die ersten Anzeichen gegeben, dass etwas mit Julian nicht stimmte. Es begann mit Problemen beim Lernen, später kämpfte er mit Psychosen, von denen nie ganz sicher war, was sie ausgelöst hatte. „Eventuell war er depressiv, wir wissen es nicht“, sagt seine Mutter heute. Es folgte ein Klinikaufenthalt, ein zehnwöchiges psychologisches Programm. Gute Phasen, schlechte Phasen. Phasen mit Medikamenten, Phasen ohne Medikamente. Phasen, in denen Julian Todesängste hatte. Damals war das Verhältnis zu seiner Familie besonders liebevoll, besonders eng. „Ich hatte das Gefühl, dass er stark bemüht ist, positive Eindrücke zu hinterlassen“, sagt Susanne H.
An Julians letztem Wochenende vor seinem Tod wusste sie, dass es ihm nicht gut ging. „Ich habe freitags versucht, einen Termin in einer Praxis zu bekommen. Ich habe klargemacht, dass wir unbedingt und sofort Hilfe brauchen“, erzählt die 56-Jährige. Der früheste Termin, den sie bekommen hätte, war vier Wochen später.
Sonntagmittags war Julian dann verschwunden. Susanne H. rief die Polizei an, um ihn suchen zu lassen. Die Polizei kam nicht mit ihrem Sohn, sondern mit einem Seelsorger zurück. Julian hatte sich an den Bahngleisen das Leben genommen.
In Deutschland gibt es etwa dreimal so viele Suizide wie Unfalltote: Mehr als 10 000 Menschen nehmen sich pro Jahr selbst das Leben, in Baden-Württemberg sind es etwa 1300. Es gibt Jugendliche und Erwachsene, die sich aus Liebeskummer umbringen wollen, unter Mobbing in der Schule oder im Job extrem leiden. Es gibt junge Frauen, die nach der Geburt ihres ersten Kindes in ein seelisches Tief fallen, oder ältere Männer, die den Ruhestand nicht ertragen. Es gibt Geschiedene und Witwer, die das Alleinsein nicht verkraften. Auch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not können zerstörerisch wirken. Im Vergleich zu den achtziger Jahren hat die Zahl der Suizide abgenommen, seit etwa zehn Jahren aber steigt sie wieder. Dabei sind es deutlich mehr Männer als Frauen, die keinen Ausweg mehr sehen und ihr Leben vorsätzlich beenden. Das Verhältnis liegt bei etwa 70 zu 30. Wie viele davon Kinder und Jugendliche sind, ist nicht bekannt.
Sie sei ratlos gewesen. Unter Schock. So beschreibt Susanne H. die Zeit unmittelbar nach Julians Tod. Sie wusste nicht, wie es weitergeht, wie sie jemals weiter funktionieren kann. „Wir waren fünf Tage später im Theater, weil wir Karten hatten und nicht wussten, was wir damit tun sollen. Wir haben einfach irgendwas gemacht.“ Neben dem Schmerz und dem Verlust stand in den ersten Monaten die Frage: Was wäre wenn? Was wäre gewesen, wenn Julian einen Termin in der Praxis bekommen hätte? Oder wenn Susanne H. früher nach Hause gekommen wäre? „Ich habe alles noch hundertmal durchgekaut.“
Die Schuld an der Tragödie hat sie weder sich selbst noch ihrem Sohn gegeben. „Ich glaube nicht an den selbst gewählten Freitod. Ich glaube nicht, dass jemand das wirklich will“, sagt Susanne H. Menschen wie Julian fielen in einen Tunnel, aus dem sie nicht mehr herauskämen. Am Ende würden sie nur einen Ausweg sehen: den Suizid. „Die Menschen, die so etwas tun, sind immer in irgendeiner Form krank“, sagt sie.
Zu Carola Schnurr kommen Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Die Sozialpädagogin arbeitet als Therapeutin beim Verein Arbeitskreis Leben. Im Gegensatz zu Susanne H. plagten die meisten nahen Angehörigen eines Suizidopfers starke Schuldgefühle, erzählt Schnurr: „Viele denken, sie hätten alles falsch gemacht, Selbstvorwürfe sind die Folge. Dadurch werden der Druck und die Not aber nur noch größer.“ Hinzu kommt, dass es nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen zu verarbeiten gilt. „Sie müssen auch mit dem gewaltsamen Tod, der selbst gewählt wurde, umgehen“, sagt Carola Schnurr.
Der Arbeitskreis Leben in Tübingen/Reutlingen bietet eine Anlaufstelle für trauernde Angehörige. In Gruppen- und Einzeltherapiesitzungen wird versucht, den Betroffenen bei der Verarbeitung ihrer Trauer zu helfen. Jeder Suizid betrifft nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation mindestens sechs weitere Menschen unmittelbar – Familienmitglieder, Freunde und Bekannte. Menschen, für die das Ereignis ein psychisches Trauma darstellt.
Carola Schnurr hört häufig, dass sich die Betroffenen vorwerfen, nicht mitbekommen zu haben, wie suizidgefährdet der nahestehende Mensch gewesen sei. „Es ist aber oft gar nicht möglich, das mitzubekommen. Denn die gefährdeten Menschen ziehen sich zurück“, sagt sie. Was aussieht wie eine spontane Tat, ist in Wirklichkeit der Endpunkt eines langen Prozesses. Und: Wenn die Betroffenen die Entscheidung zum Suizid erst einmal getroffen haben, wirken sie oft wie gelöst. Das mache den Angehörigen wiederum Hoffnung.
Auch Susanne H. hat Hilfe beim Arbeitskreis Leben gesucht. „Das hat eine große Rolle in meiner Trauerverarbeitung gespielt“, sagt sie. Insbesondere, weil sie sich neben den Einzeltherapiesitzungen auch mit Menschen austauschen konnte, die Ähnliches erlebt haben. Das helfe enorm: „Es sind scheinbar banale Sachen, die einen verbinden. Was sagt man beispielsweise, wenn einer fragt, ob man Kinder hat.“ Sagt sie dann, sie habe drei Kinder? Oder erwähnt sie nur zwei? Wem erzählt sie von dem einen Kind, das nicht mehr lebt?
Eine Art, mit der Trauer umzugehen, die für alle Betroffenen gilt und allgemein richtig ist, gibt es nicht. Wohl aber hilft der Austausch in der Gruppe fast allen Betroffenen dabei, die alltäglichen und nicht alltäglichen Herausforderungen zu meistern. Es sind Themen, die immer wieder angesprochen werden. Zum Beispiel die Frage, was mit dem Zimmer des Kindes nach dem Tod passiert oder mit den Kleidungsstücken.
Für Außenstehende ist es schwierig, mit Betroffenen umzugehen. Oftmals gibt es Berührungsängste – schon allein, weil man nicht weiß, ob jemand, der sein Kind durch Suizid verloren hat, auf diese Tragödie überhaupt angesprochen werden will. „Trauer ist ein tabuisiertes Thema, das jeden betrifft, aber oft weggeschoben und verdrängt wird. Und das Thema Suizid ist ebenfalls mit einem Tabu belegt“, sagt Carola Schnurr. Für Betroffene bleibe der Suizid oft als Stigma. „Das sollte nicht so sein. Sieht man sich die Zahlen an, müsste das Thema in der Politik und in der Gesellschaft ein viel größeres Gewicht haben.“
Was hat Susanne H. geholfen? „Die Erinnerungen an meinen Sohn“, sagt sie. Noch heute tue es ihrer Seele gut, „wenn andere Menschen Julian schätzen, ihn dafür würdigen, wer er war und wie er war“. Wenn Freunde von ihrem verstorbenen Sohn erzählen oder an seinem Todestag anrufen, vielleicht sogar eine Notiz oder Blumen an seinem Grab hinterlassen. „Viele Betroffene erzählen, dass es ihnen guttut, wenn Menschen im Umfeld noch an den Verstorbenen denken“, sagt auch Carola Schnurr.
Ungefähr zu der Zeit, als sich Julian das Leben nahm, wurde Momo geboren. Momo ist ein Labrador, den sich Susanne H. nach dem Tod ihres Sohnes anschaffte und zum Therapiehund ausbilden ließ. „Der Hund hat uns sehr geholfen in der Trauer“, sagt sie. „Er ist unser Seelentröster.“ Momo spüre, wenn es seinen Menschen nicht gut gehe, nehme zu ihnen Kontakt auf und vermittle mit seiner wedelnden Rute eine gewisse Zuversicht. Ein Hund schaut nicht zurück, er lebt im Jetzt und Hier. Auch die Familie gibt Susanne H. Kraft: Rituale wie das gemeinsame Abendessen und die gemeinsamen Besuche an Julians Urnengrab auf dem Tübinger Bergfriedhof.
Julian ist vor sieben Jahren gestorben, und doch fühlt sich Susanne H. bis heute mit ihrem Sohn verbunden – ganz besonders beim Meditieren. „Er war sehr spirituell“, sagt sie. Kurz vor seinem Tod wollte Julian nach Indien. Zu einer Heilerin, von der er hoffte, dass sie seine Seele, die langsam von der Schwermut erdrückt wurde, wieder stabilisieren könnte.
Die Trauer darüber, dass ihr Sohn sein junges Leben freiwillig beendet hat, wird Susanne H. niemals ganz loswerden. „Sie ist nun ein Teil meiner Identität“, sagt sie und beschreibt ihre Gefühlslage metaphorisch. „An manchen Tagen ist der Wellengang noch immer sehr stark, und ich fürchte zu ertrinken. An anderen Tagen ist das Wasser ruhig, fast friedlich.“
Bald wird Susanne H. ein Sabbatjahr nehmen, eine Auszeit von ihrem Job als Lehrkraft an einer Berufsfachschule. Sie will in die USA. Das Haus in Tübingen ist bereits vermietet, ihr Mann vorgeflogen. Auch diese lange Reise in ein fernes Land ist eine Folge von Julians Tod. „Ich will heute Dinge verwirklichen und nicht wie früher alles auf später verschieben“, sagt Susanne H.. „Das ist der Auftrag, den wir von Julian bekommen haben: glücklich sein, weil er nicht glücklich sein konnte.“
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