Der Komponist Max Richter spielt acht Stunden lang vor 400 schlafenden Menschen. „Sleep“ heißt das Stück. Es folgt den Phasen des Biorhythmus. Das ist gut für den Kopf, schlecht für den Rücken.
Das Konzert beginnt und endet wie jedes andere auch: Menschen erheben sich, streicheln ihre Smartphones und schießen Fotos, als wäre nichts gewesen. Doch etwas war gewesen: Der deutsch-britische Komponist Max Richter, allerspätestens seit seinen minimalistischen Neubearbeitungen von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ so etwas wie der Star einer Sparte, die eigentlich keinen braucht, hat das ambitionierteste Konzert in seiner ohnehin sehr ambitionierten Karriere gespielt.
„Sleep“, das im Rahmen des MaerzMusik-Festivals in der Nacht auf Mittwoch uraufgeführt wurde, ist mehr als nur Richters Versuch, die von Ärzten empfohlene Schlafzeit von acht Stunden vollzukomponieren. Er hat sich mit dem amerikanischen Neurowissenschaftler David Eagleman beraten, um sein Werk, das übrigens keine Pausen enthält, an die verschiedenen Phasen des menschlichen Biorhythmus anzupassen.
Für Ungeduldige gibt es auch die Ein-Stunden-VersionAls üppige CD-Box ist „Sleep“ bereits im Spätsommer vergangenen Jahres erschienen. Für Ungeduldige gab es das Stück auch in Form eines abgespeckten, einstündigen Destillats namens „From Sleep“.
Die meisten der 410 Auserwählten im Berliner Kraftwerk werden sich im Vorfeld eher letztere Variante angehört haben. Man darf sowieso bezweifeln, dass die Acht-Stunden-Version ihren eigentlichen Zweck, die Schlafbegleitung, bislang allzu oft erfüllen konnte.
Der Ort des Geschehens, ein ehemaliges Heizkraftwerk, in dem sich auch der Technoclub Tresor befindet, sieht an diesem Abend aus, als hätte eine Naturkatastrophe Berlin heimgesucht: Mausgraue Feldbetten, bei deren schierem Anblick der Rücken schon weint. Müde dreinblickende Menschen, die nur das nötigste Hab und Gut von zu Hause einpacken konnten.
Mitgebrachte Schlafsäcke, aus denen Melt- und Fusion-Mief noch nicht ausgewaschen wurden - und schließlich das Kraftwerk selbst, dieser monströse schlafende Riese, dessen Aura der Veranstaltung einen gleichermaßen friedlichen wie unheimlichen Dreh verleiht.
Richter hat laut eigener Aussage mehr als eineinhalb Jahre gebraucht, um für „Sleep“ das geeignete Schlaflabor zu finden. Hier hat er es eingerichtet. Pünktlich um Mitternacht, die Zähne sind geputzt, die Konzertgänger in Schlafsäcke verpackt, werden die Lämpchen des gigantischen Kronleuchters gedimmt.
Das Beeindruckende an Max Richters Musik ist, dass sie tatsächlich genauso funktioniert, wie ihr Schöpfer es vorgesehen hat. Ein paar sanfte, hallende Pianoakkorde, die im Laufe der Nacht immer wieder an der Oberfläche des Hörbaren auftauchen, bilden die Basis, die Startrampe für den Schlaf.
Richters Begleitmusiker, fünf Streicher und eine Sängerin, setzen erst spät ein. Sie übernehmen aber kurz vor zwei Uhr das Kommando und stoßen den Zuhörer zur rechten Zeit in die nächste Schlafphase, von Traum zu Traum.
Dabei erinnert die Musik - nicht von der Instrumentierung, aber von ihrer Funktionsweise her - an William Basinskis Großwerk „The Disintegration Loops“: Sie fällt in sich selbst zusammen, erneuert sich, dokumentiert Schritt für Schritt ihren eigenen Zerfall und kann sich doch aus jeder noch so kümmerlichen Ambient-Ruine wieder erheben - auch wenn es bisweilen Stunden dauert.
Soll ich wachen, soll ich schlafenDie Frage, ob man sich denn zwingen will, wach zu bleiben und nichts zu verpassen, stellt sich also gar nicht: „Sleep“ ist nicht dazu da, um gehört zu werden, „Sleep“ ist dazu da um verdrängt zu werden. Der Teil des Gehirns, der Musik bewusst wahrnimmt, hat sich sowieso nach einer halben Stunde ausgeklinkt. Unruhige Schlafwandler, die zwischen den Betten spazieren gehen, gibt es nur wenige.
Dennoch hat die Traumreise einige Steine, doch die hat uns nicht Max Richter in den Weg gelegt: Schlaf ist nicht nur der wichtigste, sondern auch der privateste Teil des menschlichen Lebens. Und das Setting trägt nicht wirklich dazu bei, dass einem das Einschlummern leicht fällt. Alles über 160 Zentimetern Länge baumelt von der Bettkante, alles darunter sinkt viel zu tief in die unbequemen Feldbetten ein und ja, wer Pech hat, liegt mitunter neben einem Schnarcher.
Ab der Hälfte der Nacht wird auch die Musik immer unruhiger: Anfangs sanfte Basstöne, die Richter am Computer einstreut, werden immer lauter, man wird aus dem Tiefschlaf ins Halbwache gerissen, während einen das Gemurmel der übrigen Streicher genau in die andere Richtung zerrt. Das sorgt für einen Art Schwebezustand, fast schon hypnagogisch.
Die Begleitmusiker - übrigens alle barfuß - werden phasenweise komplett durch Richters elektronische Einsprengsel ersetzt und haben Pause. Der Komponist selbst ist der einzige Mensch im Saal, der die ganze Nacht durchspielt und über alles wacht.
400 glückliche Menschen, 400 unglückliche Wirbelsäulen
Gegen sieben Uhr beginnt schließlich das kollektive Aufstehen und damit der schönste Morgen, den man sich vorstellen kann. Max Richter drückt eine satte Stunde lang auf die Snooze-Taste: Ein Dur-Akkord. Nichts weiter. Keine Sonnenstrahlen, kein Zwang aufzustehen. So muss das also sein, wenn man im Paradies aufwacht - nur der Nacken dürfte dort nicht so versteift sein.
Nachdem der letzte Ton verstummt ist, sehen wir 400 glückliche, ausgeschlafene Menschen mit 400 unglücklichen Wirbelsäulen, die wieder ihre Smartphones rauskramen und zur Arbeit gehen, als wäre nichts gewesen, vor dem Kraftwerk die Augen zusammenkneifen, als kämen sie gerade vom Feiern, nicht vom Schlafen.
Es geht auch noch länger. Sehr viel längerMax Richter tut mit diesem faszinierenden Experiment nicht nur seinen Zuhörern einen Gefallen, sondern auch dem sonst eher traurigen Subventionsfriedhof MaerzMusik, der seinem selbstgewählten Untertitel „Festival für Zeitfragen“ dank des gewagten Konzerts zumindest etwas Leben einhauchen konnte.
Dabei hat Max Richter in der Veranstaltungsreihe, die noch bis zum 20. März ernste Musik für ernste Menschen zeigt, nicht mal den Längsten: Während der letzten 30 Stunden (!) des Festivals findet, ebenfalls im Kraftwerk, „The Long Now“ statt, eine superlange, mutmaßlich anstrengende Aneinanderreihung von Live-Konzerten, Performances, Installationen und Geräuschen, die einen wohl nicht so sanft in den Schlaf wiegen können.
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