TikTok hat über 800 Millionen Nutzer, was die App auch für Werbetreibende interessant macht.
TikTok wächst und wird zunehmend zum Experimentierfeld für Marketer. Dabei feiern einige Werbungtreibende auf der Video-App auch erste Erfolge. Doch die chinesische Blackbox trifft auch auf Vorbehalte seitens der Werbeindustrie. Eine Bestandsaufnahme.
In Sekundenschnelle wechselt die Krawatte von Tagesschau-Sprecher Jan Hofer ihre Farbe. Knallgrün quittiert Hofer mit einem Kopfschütteln, das Blümchenmuster mit gequälter Mine. Erst als der Überblend-Effekt ihm
eine Krawatte in Tagesschau-Optik auf sein Hemd zaubert, lächelt er
zufrieden. Unterlegt ist der kurze Videoschnipsel mit Rapmusik. Es
ist der erste Beitrag der Tagesschau in der Video-App TikTok. Damit ist
die Nachrichtensendung nun dort angekommen, wo viele andere schon sind:
auf TikTok. Bei Jugendlichen zählt die Plattform zu den angesagtesten
Apps, kein anderes soziales Netzwerk wächst momentan so schnell wie die
Anwendung der chinesischen Medienfirma Beijing Bytedance Technology. In
Deutschland sind schätzungsweise fünf Millionen User in der Hype-App
unterwegs. Konkrete Zahlen nennt das Unternehmen nicht.
Deutlich offener zeigt sich die Video-App mittlerweile für Werbekunden.
Anfangs komplett werbefrei, öffnete sich TikTok Anfang 2018 für
In-App-Advertising. Für Hendrik Unger, Experte im
Social-Media-Marketing, ist das ein logischer Entwicklungsschritt: "Man
muss sich nur vergegenwärtigen, dass selbst Google und Instagram
komplett ohne Werbung an den Start gegangen sind." Mit der Community
wachse zeitversetzt dann auch die Möglichkeit, ein Netzwerk als
Werberaum zu vermarkten.
Mit
eigener Nutzungslogik ist TikTok zum Experimentierfeld für
Werbungtreibende geworden. "Es gibt viele Unternehmen, die sich bei uns
über verschiedene Modelle bei Werbebuchungen informieren, beobachten,
aber auch als Early Adopter erfolgreiche Kampagnen schalten", sagt Inam Mahmood, Director Partnerships TikTok
in Europa. Momentan sei der Bereich Marketing und Werbung mitten im
Aufbau und Aufbruch. Ende 2018 eröffnete TikTok sein erstes Büro in
Deutschland. Seitdem versucht die Werbevermarktung, mit den schnell
wachsenden Nutzerzahlen Schritt zu halten.
Testen, Ausprobieren und Experimentieren sind die häufigsten
Schlagworte, mit denen Werbungtreibende ihr Engagement auf der
chinesischen Plattform beschreiben. Die Zielgruppe ist dabei so jung wie
auf keinem anderen der großen sozialen Netzwerke. Experten gehen davon
aus, dass rund zwei Drittel der regelmäßigen User unter 24 Jahre sind.
Die Community ist weiblich, insbesondere Teenager zwischen 12 und 16
Jahren werden in der App zu Creatern, laden mit Musik hinterlegte
Videoclips hoch.
Mangel an Daten bremst
Präzisere
Aussagen zur Nutzerstruktur sind bislang nicht möglich, und genau das
bremst die Werbebereitschaft auf TikTok noch aus. "Es fehlen in
Deutschland Targeting-Optionen und damit die Möglichkeit, strategisch
mit großem Budget zu werben", meint Markus Windisch, Director Media bei
der Agentur Plan.Net Neo. Aus Sicht der Werbungtreibenden sei TikTok
deshalb noch eine Blackbox. Die Betonung liegt auf noch. In Ländern wie Frankreich, England, den USA
und Indien ist es bereits möglich, Werbung über eine
Selbstbuchungs-Plattform für TikTok Ads zu schalten. Nach dem Modell von
Facebook Business und dem Google Ad Manager sind Unternehmen und
Agenturen in der Lage, automatisiert und in Echtzeit Werbeplätze zu
buchen.
Das Analysetool TikTok Pixel gibt dazu genaue Auskunft, welche Anzeigen
wie effektiv sind. Analog zu Facebook-Pixel wird der Zusammenhang
zwischen geschalteten Werbeanzeigen und Klicks auf die Zielwebsite
messbar. Im deutschsprachigen Raum setzt der App-Anbieter auf
Direktwerbekunden. Wer beobachtet hat, wie rasant TikTok wächst, kann
erahnen, wie schnell sich die Plattform auch vermarktungstechnisch
weiterentwickeln wird. "Sobald der Erfolg von Paid-Kampagnen erstmals in
Zahlen abbildbar und damit besser steuerbar wird, eröffnet sich ein
ganz neues Feld an gezielten Vermarktungswegen", ist sich Windisch
sicher.
Erfolge der First Mover
Der Versandhandel Otto
gehört zu den First Movern, probierte sich früh auf der Plattform aus.
Als das Hamburger Traditionsunternehmen im Herbst zur Hashtag-Challenge
#MachDichZumOtto aufrief, war das Echo der Community groß. Innerhalb von
sechs Tagen wurden knapp 60.000 Videos mit dem Branded Hashtag
hochgeladen. "Wir sprechen auf TikTok ein deutlich jüngeres Publikum an
als beispielsweise auf Instagram", erklärt Sahra Al-Dujaili, Teamlead des Social Media Teams bei Otto.
Auf TikTok trete Otto als Marke in den Hintergrund. Ziel sei der
Austausch mit der Community: "Es ergibt wenig Sinn, eine
Top-down-Message zu platzieren – so funktioniert das Netzwerk einfach
nicht." Junge Nutzer würden viel lieber mitgestalten und eigene Inhalte
hochladen. Al-Dujaili sieht die chinesische App auch als Gegenbewegung
zur Hochglanz-Welt, wie sie andere soziale Netzwerke beim Durchscrollen
durch den Newsfeed präsentieren: "Selbstironie, Spontanität und der Mut,
sich unperfekt zu präsentieren, sind wichtig, um mit der Community auf
Augenhöhe zu kommunizieren."
Jan Firsching von der Berliner Agentur Brandpunkt
berät Unternehmen bei der Entwicklung von Social-Media-Konzepten. Für
ihn ist die Hashtag-Kampagne von Otto ein gutes Beispiel, wie sich
gegenwärtig schon auf TikTok erfolgreich werben lässt. "Viralität ist da
das Stichwort. Wer kreativ ist, kann mit einer Challenge die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen." Mit tanzenden Früchten und dem kurzen
Hashtag #PunicaDance erreichte der Getränkehersteller Punica 40
Millionen User innerhalb von einer Woche. Im Frühsommer präsentierte
sich BMW mit seiner neuen 1er-Reihe erstmals auf der
jungen Plattform. Auch wenn die meisten TikTok-User so jung sind, dass
sie weder Auto noch Führerschein besitzen, möchte der Autohersteller
seine Brand-Awareness steigern.
Auffallend bei den verschiedenen
Kampagnen: Sehr oft kooperieren Marken mit Influencern, die auf TikTok
bereits selbst zu Social-Media-Stars geworden sind. "Influencer haben
meist nicht nur eine große Community, sondern kennen das Netzwerk. Sie
sind Türöffner und zugleich auch Content-Creator", spricht
Social-Media-Berater Firsching von einer Win-win-Situation.
Influencer ja, Promis nein
Werbefiguren wie Lionel Messi oder Beyoncé
hält er dagegen eher als unpassende Gesichter für die Zielgruppe und
das Netzwerk. "Ein Lionel Messi ist zwar ein bekanntes Testimonial, aber
sicherlich nicht besonders kreativ und innovativ in seiner
Darstellung." Otto kooperierte für die "#MachDichZumOtto"-Kampagne mit
17 Influencern. Am Konzept wurde gemeinsam mit den Aushängeschildern der
Plattform gearbeitet, bei der Umsetzung aber sei versucht worden, den
Influencern große Freiräume zu geben, erklärt Al-Dujaili.
Wer
durch den Feed bei TikTok scrollt, hat oft Schwierigkeiten, Werbung und
Inhalt zu unterscheiden. Über Native Advertising erscheint Werbung oft
in der gleichen Aufbereitung wie die kurzen, meist unterhaltsamen
Videoinhalte von Nutzern. Bei Anzeigen in Form sogenannter TikTok Lenses
nimmt die App das bereits auf Facebook oder Snapchat bekannte Modell
zum Vorbild. Unternehmen stehen 2D, 3D und gesponserte Augmented Reality
Lenses zur Verfügung, die über die Videos gelegt werden.
Werden die Clips gesehen?
Auch
wenn die App von den aktiven Nutzern im Schnitt knapp 50 Minuten am Tag
genutzt wird, ist die Gefahr groß, dass einzelne Videoclips schnell
übersprungen werden. Das Angebot ist groß. Pro Monat verzeichnet TikTok
allein in Deutschland mehr als zehn Milliarden Video-Aufrufe.
TikTok-Manager
Mahmood hat bei reichweitenstarken Kampagnen ein Muster ausgemacht:
"Erfolgreiche Videos erzählen die Story oft wie ein gutes Buch. Der
Einstieg ist wichtig, damit von den Nutzern niemand abschaltet. In der
Mitte lassen sich Produkt und Marke präsentieren. Das Ende darf dann
wieder von der eigentlichen Kernaussage zu einer Sequenz führen, die im
Kopf bleibt." Perspektivisch hat sich TikTok zum Ziel gesetzt, den
Altersschnitt zu erhöhen – auch auf Digital Natives über 30 Jahre. Denn
mit steigendem Alter erhöht sich die Kaufkraft der User.
Was auf dem Erfolgsweg ebenfalls stört, sind Negativschlagzeilen über den chinesischen Internetriesen ByteDance,
der 2017 die Mitsing-App Musical.ly aufkaufte und mit TikTok
zusammenführte. Immer wieder lautet der Vorwurf, ByteDance behalte sich
vor, politische Inhalte zu entfernen, wenn sie der chinesischen
Regierung missfallen. "Auch unter diesem Gesichtspunkt warten
Werbungtreibende aktuell noch ab. Brand Safety wird immer wichtiger.
Marken wollen wissen, in welchem Umfeld sie werben", beobachtet
Brandpunkt-Experte Firsching.
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