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Reportage

Unnaufällig und doch präsent

Polen sind die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland und gut integriert. Doch für die junge Generation bedeutet Integration mehr als Anpassung: Sie wollen endlich sichtbar werden.




„Los, Alex!“, hallt es durch die Turnhalle. „Gib alles!“ Alexander Przybylski steht angespannt vor der Tischtennisplatte. Konzentriert blickt er auf die gegnerische Seite. Ein schneller Ballwechsel, dann der entscheidende Schmetterball. Es steht 11 zu 9 – Sieg. Der 19 Jahre alte Sportler klatscht seine Teamkollegen ab. „Sehr stark“, ruft ein Mitspieler. Przybylski ist einer der besten Spieler in der Tischtennisabteilung der Eintracht Wiesbaden – ein typischer Innenstadtverein mit Mitgliedern aus unterschiedlichen Ländern.


Auch Alexander Przybylski hat einen Migrationshintergrund: Er besitzt einen polnischen Pass. Seine Eltern kamen vor fast 30 Jahren aus dem polnischen Wloclawek nach Deutschland, er selbst ist in Wiesbaden geboren. Für die Teamkollegen sind seine Wurzeln kaum ein Thema. Warum auch, Alexander sei doch gut integriert, sagen sie.


„Gut integriert“, das trifft auf die meisten Polen in Deutschland zu. Oft werden sie sogar als „unsichtbare Migranten“ bezeichnet. Denn Polen fallen kaum auf – obwohl sie nach den Türken die zweitgrößte Gruppe von Einwanderern bilden. Laut dem Statistischen Bundesamt lebten 2017 insgesamt 866.855 polnische Staatsangehörige in Deutschland. Zählt man Menschen mit polnischem Migrationshintergrund hinzu, sind es fast zwei Millionen. Viele von ihnen kamen in den 1980er Jahren aus dem damals noch sozialistischen Polen. Ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können, war lange ungewiss.


„Dieser Hintergrund hat einen starken Integrationsdruck ausgeübt und die Generation geprägt“, sagt Peter Oliver Loew vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt. Zudem habe die kulturelle und räumliche Nähe beider Länder sowie das Bedürfnis vieler Polen, sich in die deutsche Gesellschaft einzugliedern, die Integration beeinflusst. Auch die deutsche Überheblichkeit und polnische Komplexe hätten den Druck auf viele Polen erhöht, sich möglichst gut anzupassen, sagt Historiker Loew. 


Polen erfahren weniger Diskriminierung

Für junge Polen der nachfolgenden Generation, die in den 1990er Jahren in Deutschland geboren wurden, ist dies Geschichte. Viele von ihnen präsentieren ihre polnischen Wurzeln selbstbewusst – nicht zuletzt wegen der Erfolge ihres Landes, etwa dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem EU-Beitritt. Und dennoch sind junge Polen in der deutschen Gesellschaft nach wie vor kaum sichtbar, auch Alexander Przybylski nicht. Wenn er Fremden von seiner Herkunft erzählt, zweifeln sie das oft erst einmal an. Dann müsse er etwas auf Polnisch sagen, um sie zu überzeugen. „Aber klar, ich sehe ja nicht anders aus und habe keinen Akzent“, sagt Przybylski.


Dass Polen äußerlich nicht unterscheidbar sind, führt laut einer Studie dazu, dass sie in Deutschland weniger Diskriminierung erfahren als andere Migrantengruppen. Auch Przybylski hat keine größeren Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht. In seiner Tischtennis-Mannschaft fühlt sich der Maschinenbau-Student wohl. Mit Doppelpartner Anton Fischer ist er auch privat gut befreundet. Obwohl es ein anstrengendes Turnier ist, albern die beiden in den Pausen zwischen den Spielen herum.


Doch wenn Przybylski auf seine polnischen Wurzeln zu sprechen kommt, wird er nachdenklich. Die polnische Kultur sei ein wichtiger Bestandteil seiner Identität, sagt Przybylski ernst. Bis zur achten Klasse besuchte er samstags zusätzlich die polnische Schule in Eschborn, zur Kommunion ging es in die polnische Kirche in Wiesbaden. „Die zusätzlichen Unterrichtsstunden haben mich als Schüler genervt. Heute bin ich aber froh, dass ich auch die polnische Schule besucht habe“, sagt der Student.


Denn viele Leute in Deutschland wüssten wenig über Polen. Das sei schade, wegen der gemeinsamen Geschichte der Länder. Sein Vater habe einen Weg gefunden, dem entgegenzuwirken: „Er verschenkt Bücher über Polen an gute Bekannte”, erzählt Przybylski stolz. Mit seinen Eltern spricht er nur Polnisch. Er beherrsche die polnische Sprache zwar schlechter als die deutsche, doch Polnisch fühle sich „heimatlicher“ an, sagt er.


Es ist vor allem die Sprache, die ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt und die eigene Identität prägt. Loew beobachtet, dass sich viele junge Polen zurückbesinnen und ihre Wurzeln wiederentdecken wollen. Das sei nicht zuletzt an der steigenden Nachfrage nach Polnisch-Sprachkursen erkennbar. Auch die Sprachschule PL in Frankfurt reagiert auf die Entwicklung und hat mit „Polnisch als Familiensprache“ ein eigenes Angebot für die zweite Generation geschaffen.


Bislang geringe Vernetzung unter Polen

Dass Polen in der Öffentlichkeit Polnisch sprechen, ist nicht die Regel, weiß Emilia Smechowski. Die Journalistin kam als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Berlin. Ihre Landessprache auf der Straße zu sprechen war für ihre Familie ein Tabu. Anpassung hieß das Credo. Auch um sich möglichst schnell in die Gesellschaft einzufügen und „deutsch zu werden“. Über ihre Erfahrungen hat Smechowski das autobiographische Buch „Wir Strebermigranten“ veröffentlicht – und damit zahlreichen Einwanderern aus dem Herzen gesprochen. Die Reaktionen haben Smechowski beeindruckt: „Viele Leute fingen an, bei den Lesungen von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen. Das war spannend. Eigentlich habe ich ja nur meine Familiengeschichte aufgeschrieben. Und damit, scheint es, auch die vieler anderer. Es gibt starke Parallelen bei polnischen Migranten in Deutschland.“ 


Ansonsten haben Polen nur wenige Plattformen, auf denen sie sich über ihre Migrationsgeschichten austauschen können. Auch polnische Vereine gibt es in Deutschland nicht viele. Kevin Haltof hat auf die niedrige Vernetzung reagiert. Mit Freunden gründete der 24 Jahre alte Steuerrechtsstudent vor sieben Jahren die Facebook Gruppe „Polacy w Mainz“ (Polen in Mainz). Mittlerweile hat sie mehr als 5.000 Mitglieder. „Das Netzwerk soll vor allem dazu dienen, Polen, die neu nach Deutschland kommen, zu unterstützen“, erklärt Haltof. „Mitglieder helfen sich gegenseitig bei Fragen zum Arbeitsrecht oder bei der Wohnungssuche.“ Das sei viel Arbeit, aber er mache es gern, sagt Haltof. Lokale Vernetzung ist dem Studenten wichtig.


Haltof ist in Mainz groß geworden, fühlt sich in der Stadt am Rhein heimisch. Seine Wohnung in der Nähe des Hauptbahnhofs sei seine „Traumwohnung“. Seine ersten eigenen vier Wände hat er ganz nach seinem Geschmack eingerichtet. Haltof hat einen Sinn für ausgefallene Accessoires. Er zeigt auf einen antiken Globus und ein für ihn angefertigtes abstraktes Gemälde über seinem Bett, auf die beiden Gegenstände ist er besonders stolz. In seinem Arbeitszimmer hängen Fotos seiner polnischen Familie. Er besucht sie regelmäßig in Kattowitz. Manchmal zieht es ihn aber auch auf Techno-Festivals nach Polen. Seine Woche sei durch das Studium und mehrere Nebenjobs stressig. „Beim Feiern lasse ich dafür dann alles raus“, sagt Haltof.


Am Wochenende lädt er Freunde zu sich nach Hause ein. Mit ihnen spricht Haltof auch über polnische Themen. „Ich will etwas weitergeben, weil viele Leute wenig über Polen wissen. Die polnische Geschichte kenne ich quasi auswendig“. Als „Oberschlesier” fasziniere ihn vor allem die schlesische Vergangenheit: „Besonders spannend finde ich, dass im Mittelalter nach dem Mongolensturm viele deutsche Bauern nach Polen ausgewandert sind, weil die polnischen Fürsten kaum noch Leute hatten, um das Land zu bewirtschaften. Für mich ist das eine der schönsten Geschichten zwischen Deutschen und Polen, weil damals schon Frieden geherrscht hat.” Viele Schlesier würden sich auch heute noch deutsch und polnisch fühlen. „Und so sehe ich mich auch”, erklärt Haltof.


Seine polnischen Wurzeln will Haltof in Deutschland nicht verstecken. Der Student zeigt sich selbstbewusst: „In der 5. und 6. Klasse haben sich viele Kinder über meine polnischen Wurzeln lustig gemacht, weil sie dachten, dass Polen unterentwickelt sei.“ Statt sich davon unterkriegen zu lassen, fühlte sich Haltof Polen nur noch mehr verbunden. „Ich war zu der Zeit zwei bis dreimal jährlich mit meinen Eltern in Polen und wusste, dass das nicht stimmt. Ich habe angefangen, stolz auf meine Herkunft zu sein.”


Links und rechts reden nicht miteinander

Stolz auf die eigenen Wurzeln zu sein, das ist für viele Polen nicht selbstverständlich. Haltofs Vater war die polnische Herkunft peinlich, als er mit 18 Jahren nach Deutschland kam. „Er nannte es Demut”, sagt Haltof. Die Scham vieler Polen sei auch durch öffentliche Debatten entstanden, sagt Arkadiusz Szczepanski, Geschäftsleiter der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft. In den neunziger Jahren sei die polnische Integration ein großes Thema gewesen und viele hätten sich für ihre Herkunft geschämt. Szczepanski erinnert sich: „Das wirft auch Schatten auf einen selbst.” Heute ist Szczepanski Chefredakteur des „Forumdialog“, einer deutsch-polnischen Online-Plattform, auf der Beiträge zu gesellschaftlichen sowie politischen Themen erscheinen. „Wir nehmen eine Vermittlerrolle ein”, erklärt Szczepanski. Die Nutzer der bilingualen Seite seien in etwa zu gleichen Teilen Polen und Deutsche.


Der Blick nach Osten ist wichtig, findet auch Journalistin Smechowski. Sie bemängelt, dass der Westen dem Osten immer noch zu wenig Aufmerksamkeit schenke: „Und dann gibt es plötzlich Schockmomente, wenn es zu größeren Veränderungen kommt, zum Beispiel als 2015 die nationalkonservative Regierung in Polen an die Macht kam.“ Die PiS-Regierung polarisiert in Polen – und in Deutschland.


Auch bei den Polen hierzulande gibt es eine Spaltung zwischen Linksliberalen und Rechtskonservativen, die teilweise nicht mehr miteinander reden. Kevin Haltof steht nicht hinter der aktuellen polnischen Politik: „Die polnische Regierung lebt zu sehr in der Vergangenheit. Für die sind die Deutschen und die Russen immer noch die Feinde, wie im Zweiten Weltkrieg. Die sind rechts, das muss man ganz klar sagen.” Der Student ist politisch interessiert, informiert sich sowohl in deutschen als auch in polnischen Medien über aktuelle Geschehnisse. Dabei falle ihm vor allem die unterschiedliche Haltung der Medien beider Länder zum Thema Flüchtlinge auf. „Das ist quasi ein Hetzkampf von beiden Seiten. Die polnischen Medien berichten über die Überfälle von Migranten in Deutschland und die deutschen Medien berichten, dass Polen keine Flüchtlinge aufnehmen will.”


Die Frage nach dem Umgang mit Migration und Flüchtlingen beschäftigt den Studenten: „Ich bin, wie wohl viele andere Polen auch, ein glühender europäischer Patriot und konservativ. Eigentlich habe ich immer die CDU gewählt, aber die Partei hat wegen des unkontrollierten Flüchtlingsstroms komplett versagt.” Dies sei der einzige Punkt, in dem er der polnischen Regierung recht gebe: „Ich finde die konservative Ansicht in der Flüchtlingskrise gut; dass man sagt, man nimmt Flüchtlinge auf, aber nur wenn sie einen gültigen Pass haben. Schließlich sollen keine Wirtschaftsflüchtlinge aufgenommen werden, die sich als Kriegsflüchtlinge ausgeben.”


In Deutschland und in Polen heimisch

Julia Gac steht der polnischen Politik hingegen kritisch gegenüber, vor allem bei der Flüchtlingsfrage: „Wenn ich in Deutschland auf die Politik der PiS-Regierung angesprochen werde, dann meistens von Deutschen, die sagen, dass sie die Polen beim Thema Flüchtlinge verstehen können.“ Das irritiert die junge Polin sie teilt diese Einstellung nicht. „Die aktuelle Regierung wäre für mich ein Grund, auf Dauer nicht in Polen zu leben“, sagt Gac in einem indischen Restaurant in Frankfurt. Sie scheut sich nicht, ihre politische Meinung öffentlich zu äußern. Einen polnischen Nationalstolz empfinde sie dennoch – aber unabhängig von der aktuellen Politik: „Ich glaube, ein Nationalgefühl haben Polen durch ihre Geschichte automatisch, etwa durch den Widerstand im Zweiten Weltkrieg.“ 

Gacs Vater kam 1989 aus Warschau nach Deutschland, ihre Mutter folgte ihm 1992. Gac selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die 26 Jahre alte Sales-Support-Managerin arbeitet in Frankfurt und wohnt in Wiesbaden. Nach der Arbeit ist sie ab und an in der Mainmetropole unterwegs, um sich mit Freunden zu treffen. Die junge Polin probiert gern Neues aus; im indischen Restaurant bestellt sie einen Crêpe aus Linsen und Reis, gefüllt mit Kartoffeln und Zwiebeln. Beim Essen erklärt sie, dass sie keinen Zwiespalt durch ihren polnischen Hintergrund empfindet: „Manche Migranten sagen ja, dass sie sich weder in Deutschland noch in ihrem Herkunftsland wirklich zu Hause fühlen. Das ist bei mir nicht so, ich fühle mich in beiden Ländern heimisch.“ Doch manchmal sei die Sehnsucht nach der polnischen Heimat groß. Wenn sie dann endlich wieder im Bus in Warschau sitze und alle Leute um sie herum Polnisch sprechen, werde ihr warm ums Herz, sagt Gac.

Ansonsten spielt sich „das Polnische“ für sie eher zu Hause ab. Dort hört sie gern polnische Musik, meist alte Stücke aus ihrer Kindheit. „Oder ich singe die Lieder unter der Dusche“, sagt Gac und muss lachen. Im Restaurant im Frankfurter Bahnhofsviertel ist sie umgeben von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Das Viertel gilt mit einem Ausländeranteil von rund 60 Prozent als der multikulturellste Stadtteil in Frankfurt. Ob Indisch, Thailändisch, Türkisch oder Chinesisch – hier haben Migranten vieler Nationen Geschäfte und Restaurants eröffnet. Dass es hier keine polnischen Läden gibt, stört Julia Gac wenig. „Ich brauche keine Anlaufstellen“, sagt Gac. „Denn ich trage das Polnische immer in mir.“