Eine Schneiderin erteilte uns das Fach Handarbeit in der Schule und wir machten viele Sachen zum Anziehen für uns. Mein Vater war gut in Handarbeit und er hat mir oft die Sachen fertiggemacht. So z.B. ein Nadelkissen, das wir sticken mussten. Ich war meist froh, wenn er es fertigstellte. Ich war nicht ausdauernd genug. Abends waren bei uns oft noch Leute im Geschäft, und wir saßen dort und er machte Handarbeiten für mich fertig. Er war sehr geschickt mit den Händen und hatte mehr Geduld und mehr Ausdauer als ich. Abends spielte sich das Leben meist im Geschäft ab. Im Winter waren wir viel in der Küche und machten Spiele, etwa Schach oder Mensch ärgere dich nicht. Ich liebte die langen Winterabende.
Vor Weihnachten hatten wir im Geschäft viel zu tun. Ich half mit und verdiente mir ein Taschengeld dazu. Haare zusammenkehren, Wickler herausmachen und die Haarwaschbecken saubermachen, waren meine Hauptbeschäftigungen. Bei Dauerwellen musste ich oft die Wickler strecken, damit es schneller ging. Meist bekam ich eine oder zwei Mark zusammen. Das Trinkgeld der Eltern bekam ich meistens auch. Von den Eltern erhielt ich als Dankeschön eine Halskette oder Ohrringe oder einen Fingerring, fast nie Geld. Für das Geschäft bekam ich immer eine Schürze mit Säcken rechts und links. Dort musste ich immer hergerichtet sein. Etwas Anderes wurde nicht geduldet. Abends schnitt ich meinem jüngeren Bruder oft die Haare oder übte mich in Dauerwellen. Hatte ich die Haare nicht richtig geschnitten, nahm ich einen Augenbrauenstift und korrigierte nach. Die Farbe hielt meist so lange, bis die Haare wieder nachgewachsen waren. Er beklagte sich selten, zumal ich im Haare korrigieren sehr geschickt war. Lange Zeit wollte ich Frisöse werden und das Geschäft einmal übernehmen, aber irgendwann hatte ich es satt. Ein Leben auf dem Dorf gefiel mir plötzlich nicht mehr.
Meine Freundin half manchmal mit, oft am Samstagnachmittag beim Putzen. Sie konnte ein Taschengeld brauchen. Hatte sie keine Zeit oder etwas Anderes vor, machte das nichts aus. Später gingen wir oft zusammen tanzen, und wir kannten bald alle Jungs in der Umgebung. Meist fuhr uns mein Vater zu den Veranstaltungen und holte uns dann wieder ab. Manchmal gingen meine Eltern während dieser Zeit Bekannte besuchen oder eben zu einer Veranstaltung. Als ich endlich den Führerschein hatte, bekam ich das Auto, und wir hatten mehr Freiraum. Dann musste ich den jüngeren Bruder mitnehmen. Das Passte mir manchmal nicht so gut. Er war so eine Art Anstandsdame. Eine Zeitlang zogen wir uns beide gleich an und man konnte uns nicht voneinander unterscheiden. Die Leute sahen mich oft irgendwo, wo ich überhaupt nicht war. In der Stadt sprachen mich oft Frauen und Mädchen an. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Sie hielten mich für meinen Bruder. Sein Bekanntenkreis war damals ziemlich groß. Die Männer ließen mich meist n Ruhe. In diesen Reihen hatte er weniger Bekannte.
In: G. Hutt, Geschichten aus meiner Kindheit, Fouqué Verlag, Frankfurt/Main, 1998.
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