Gipfelkonferenz mit Maestro und Mountaineer: Dirigent Daniel Spaw, 35, und Trailrunner Philipp Reiter, 30, stammen aus derselben Generation und zählen zu den Besten ihrer Metiers. Beide leben in der Alpenstadt Bad Reichenhall, die ebenso für Bergsport wie für Kultur steht. Was verbindet den Extremsportler mit dem Konzertmusiker?
ALPS: Ihr habt euch oben auf dem Predigtstuhl getroffen. Welche Gemeinsamkeiten habt ihr auf eurer Tour entdeckt?
Philipp Reiter: Interessant ist, dass wir trotz völlig unterschiedlicher Branchen ähnliche Erfahrungen machen. Das fängt schon bei den Vorbereitungen beziehungsweise beim Training an: Wir müssen improvisieren können, uns schnell auf neue Situationen einstellen. Einen Unterschied aber gibt es: Wenn ich ein schlechtes Rennen hab, dann ärgere ich mich, dann ist nur ein Tag kaputt. Bei Daniel ist halt eine ganze Gruppe betroffen.
Daniel Spaw: Wenn ich schlecht drauf bin, muss ich trotzdem gute Stimmung verbreiten. Wenn ich selbst unruhig bin, verliere ich die Kontrolle. Also muss ich ruhig bleiben. Aber Philipp und ich, wir sind beide Teil eines Teams, insofern geht es immer auch um die Menschen, die beim Vorbereiten helfen, nie nur um dich. Wir beide müssen Leistung erbringen und im Team in dieselbe Richtung arbeiten, um etwas Inspirierendes zu liefern. PR: Und du musst halt genau in dem Moment Leistung bringen, in dem sie gefordert ist. Wann du trainierst, ist egal, aber es gibt diesen einen Zeitpunkt, die Uhrzeit, das Datum, da muss es passen, egal ob du dich gut fühlst oder nicht. Man muss lernen, alles um sich herum auszublenden. Viele schotten sich vorher komplett ab, damit erst gar keine Emotionen aufkommen, die irritieren könnten. Das haben Musik und Sport gemeinsam, da ist vieles deckungsgleich.
ALPS: Noch eine Parallele: Ihr bespielt als Akteure beide eine Bühne. Daniel, dein Arbeitsplatz sind die Konzertsäle, während Philipp auf seinem Instagram-Account rund 70 000 Leute folgen.
PR: Die Selbstdarstellung auf Social Media ist wichtig, wenn man als Profi von seinem Sport leben will. Mittlerweile erwarten die Sponsoren, dass man dort präsent ist. Man entscheidet ja selbst, wie viel man von sich preisgibt. Für andere kann das sogar eine Inspiration sein: Ich habe einen Follower, der war ein typisch deutscher Mallorca-Tourist: Ballermann, 120 Kilo, Sangria aus dem Eimer. Dann hat er mich auf Instagram entdeckt und angefangen zu wandern und zu laufen. Er hat eine Ausbildung zum Ernährungsberater gemacht, geht viel in die Berge, fotografiert und hat das auch zu seinem Beruf gemacht. Das finde ich schon cool, wenn das, was ich selbst gern mache und poste, einen solchen Effekt auf andere haben kann.
ALPS: Was hat euch überrascht beim Vergleichen eurer Erfahrungen?
DS: Gar nicht so viel. Was ich natürlich nicht wusste, waren die Spezifika, wie ein Wettrennen funktioniert und wie Philipp zu diesem Sport gekommen ist. Aber wenn es darum geht, wie man sich vorbereitet, was währenddessen in einem vorgeht und worauf man zurückgreift, wenn es schwierig wird, das ist fast dasselbe. Die mentale Vorbereitung ist wichtig, und die Fähigkeit, die Nerven zu behalten. Beim Musizieren im Orchester geht es zu 50 Prozent um die Musik, um die Leistung, um die Noten. Und um 50 Prozent um die mentale Vorbereitung.
ALPS: Und wie läuft diese ab? Es gibt ja Entspannungstechniken, mit denen Musiker beispielsweise Lampenfieber vorbeugen können, oder spezielle Atemtechniken für Sportler …
DS: Ich habe keine bestimmten Prozesse oder einen Aberglauben, dass ich unbedingt die richtige Hose anziehen muss, sondern verlasse mich auf meine Erfahrung. Es ist nie etwas Schlimmes passiert. Musik ist ja erst mal nicht lebenswichtig, aber es ist eine Performance, ich lasse mich auf das ein, was kommt, und reagiere auf den Moment. Früher, in der Highschool, habe ich als Torwart in einer Eishockeymannschaft gespielt. Da weiß man, es kommen überraschende Schüsse. Aber es ging immer gut. Warum also sollte es heute nicht gut gehen?
PR: Apropos Atmen: Ich setze keine Techniken ein. Interessant ist aber: Wenn man sich atmen hört, ist man tendenziell langsamer. Weil sich der Körper selbst wahrnimmt und dann reguliert. Wenn ich laute Musik laufen lasse, lauf ich schneller, weil ich das Geräusch des Atmens nicht mehr höre, das dem Körper signalisiert: Ja, O.K., jetzt ist es schon echt zach, mach langsamer. Wenn du das ausschaltest oder blockierst, kannst du mehr Leistung bringen. Ein schneller Beat pusht extrem.
ALPS: Daniel, welche Fähigkeit ist für einen Dirigenten am wichtigsten?
DS: Das Verständnis für Menschen. Gefühl für Musik und für den eigenen Körper ist auch wichtig – man muss wissen, wie man sich bewegt. Aber wenn man Menschen nicht versteht, geht gar nichts. Man muss auf sie eingehen können. Ich selbst mache ja keinen Ton. Null. Den machen all die anderen um mich herum. Es geht darum, sie zusammenzuführen, zu motivieren und ein einheitliches Ergebnis zu bringen. Daher ist das Verständnis fürs Zwischenmenschliche das Allerwichtigste. Um Selbstdarstellung geht es beim Dirigieren eher nicht.
ALPS: Und was ist die wichtigste Eigenschaft eines Extrembergsportlers?
PR: Die Ausdauer. Nicht nur bei einer einzelnen Bergtour, sondern wenn es insgesamt rauf und runter geht. Man hat ja immer wieder Höhen und Tiefen und muss einfach dranbleiben. Selbsteinschätzung ist auch wichtig und Gefahrenmanagement – dass man hinterfragt, wie weit man geht, wenn die Bedingungen oder das Wetter schlecht sind. Auch wenn man Angst entwickelt, wird’s gefährlich. Solange man sich sicher fühlt und glaubt, alles unter Kontrolle zu haben – das ist sicher etwas, was uns beide verbindet – ist man extrem konzentriert. Es geht dann nur um den nächsten Schritt.
ALPS: Kondition und Ausdauer spielen für dich ja auch eine Rolle, Daniel ...
DS: Wir sind eines der fleißigsten Orchester Deutschlands, mit rund 300 Konzerten im Jahr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Orchester gibt, das mehr Konzerte gibt. Wir spielen fast jeden Tag und jedes Mal etwas anderes. Die meisten Programme sind für mich völlig neu, allein seit Mai haben wir 50 oder 60 verschiedene Programme gespielt.
ALPS: Gibt es bei dir zu Hause in Nashville Hügel oder Berge, Daniel?
DS: Die Geografie in Tennessee teilt sich in drei Teile, auf der ,State Flag‘ gibt es drei Sterne dafür: Ost-Tennessee grenzt an North-Carolina, an den Gebirgszug der Appalachen. West-Tennesse grenzt an den Mississippi, dort ist es viel flacher. Also vom Westen her flach, Mitte hügelig, im Osten Berge.
ALPS: Wie ist für dich, in den Bergen zu leben?
DS: Es ist was Neues, es ist noch nicht Alltag, dass ich auf den Predigtstuhl schauen kann oder auf den Staufen oder die Schlafende Hexe, das ist noch nicht normal. Und es gibt eine Farbe, ein Orange, das ich noch nie vorher gesehen habe: wenn die Sonne untergeht und schon unten ist im Tal, aber noch auf die Bergspitzen scheint ...
PR: Alpenglühen ...!
DS: Ich erwähne diese Beobachtung auch in Konzerten. Für viele Einheimische ist das sicher Alltag, aber zu hören, wie jemand das erlebt, der nicht hier aufgewachsen ist, sondern auf einem anderen Kontinent, das bringt vielleicht eine neue Sicht auf Altbekanntes.
ALPS: Ihr habt beide schon in der Kindheit mit eurer Leidenschaft begonnen ...
DS: Ja, meine Eltern bekamen mit, dass ich Sachen schon nach einmaligem Hören nachspielen konnte. Es gibt ein Foto von mir in Windeln auf der Klavierbank. Mit drei habe ich „Happy Birthday“ auf dem Klavier geklimpert. Danach bekam ich Unterricht. Darüber kann ich heute wirklich froh sein. Und als ich später sagte, dass ich Musik studieren möchte, haben sie das ebenso unterstützt. PR: Ich habe zwei jüngere Geschwister und meine Eltern haben sich viel Mühe gegeben, uns diese Draußen-Begeisterung weiterzugeben. Im Nachhinein war das alles cool, mit Lagerfeuern, draußen Übernachten, am Zwiesel zum Beispiel, und dazu Radeln, Klettern, mit dem Alpenverein auf Tour gehen. Irgendwann fanden wir das nicht mehr so cool, ich machte eine Pause. Über die Ausschreibung für ein Skitourenrennen, den Götschenfuchs in Bischofswiesen, bin ich wieder auf den Geschmack gekommen. Ohne passendes Umfeld oder Eltern findet man wohl eher nicht zum Bergsport. Und es ist wichtig, dass es eine Förderung ist, keine Forderung. Das haben wir im Umfeld oft gesehen, dass die Kinder die Wünsche der Eltern ausleben, sei es in der Musikschule oder im Sportverein, und wenn die Kinder dann selbst entscheiden können, lassen sie alles sein.
ALPS: An welchem Punkt habt ihr euch entschlossen, aus der Leidenschaft eine Profession zu machen?
PR: Ich bin da reingerutscht. Ich arbeite heute für Salomon, war erst Athlet für sie und bin nun hinter die Kulissen gewandert, mache Sportmarketing für Athleten und Ambassadors und organisiere Events, Kooperationen und solche Sachen. Es ist toll, mit jungen Leuten zu arbeiten, die ähnliche Steps und Stufen durchleben wie ich, ich kann ihre Begeisterung fördern, sie als Marke aufbauen, sie zu Rennen schicken, damit sie internationale Erfahrungen machen.
DS: Schon als Teenager wollte ich Dirigent werden, ohne zu wissen, was das erfordert, es gab für mich nichts Spannenderes als ein Orchester. Der Klang im Konzertsaal oder von Aufnahmen war das Stimulierendste, das ich kannte; das hat mich fast wie eine Droge high gemacht. Mir war klar, das muss ich machen, es gab es nichts anderes.
ALPS: Ihr müsst auch beide mit den Kräften haushalten, die Dramaturgie beachten und sogar Risiken eingehen, oder?
DS: Ja, wobei ich vor allem versuche, die Dramaturgie des Werkes rüberzubringen, aber wenn wir drei Höhepunkte haben, muss ich schauen, welcher für mich der wichtigste ist. Zum Beispiel in einer Oper, wenn in der letzten Szene jemand umgebracht wird, als totale Überraschung, dann muss alles darauf hinzielen. Ist eine spannende Sache und ein Grund, warum ich das mache.
ALPS: Bei einer Bergtour gibt es Schlüsselstellen, Steilabfahrten und Punkte, an denen man sich dann wieder sammelt. Kann man das vergleichen, Philipp?
PR: Doch ich denk schon, ja. Man darf halt einfach nicht zu viel Gas geben (lacht).
DS: Ein Bild muss ich dazu loswerden: Als ich anfing, Opern zu übernehmen, ganz ohne Probe, das ist schon Wahnsinn, wenn man das zum ersten Mal macht. Das ist, wie wenn man auf einem Gefälle steht, die andere Seite sieht und weiß, man muss gleich springen und rüberfliegen. Ein Musikabend beginnt mit dem ersten Ton und hört mit dem letzten auf. Dazwischen müssen wir schauen, ob wir fliegen oder fallen. Ein Abend, den man übernimmt, ohne geprobt zu haben, fühlt sich so an: Man springt und schaut, ob die Flügel tragen.
DANIEL SPAW, US-AMERIKANISCHER CHEFDIRIGENT
Jahrgang 1985. Stammt aus Nashville/Tennessee. Klavierstudium an der Indiana University, Orchesterleitung in Köln. Kapellmeister am Landestheater Linz, dirigierte u. a. die Premiere von „La Traviata“ in der Inszenierung des US-Amerikanischen Starregisseurs Robert Wilson. Ab 2017 Kapellmeister am Theater Hof, Assistent von Sir Simon Rattle bei den Baden-Badener Osterfestspielen, 2019 Debüt mit dem Göttinger Symphonie Orchester. Seit November 2020 Generalmusikdirektor und künstlerischer Leiter der Bad Reichenhaller Philharmoniker, einem 40-köpfigen Berufsorchester mit rund 500 Stücken im Repertoire, das Musiker aus der ganzen Welt anzieht und 300 Konzerte im Jahr gibt.
PHILIPP REITER, TRAILRUNNER, SKIBERGSTEIGER UND FOTOGRAF
Jahrgang 1991. Stammt aus Bad Reichenhall. Erste Anfänge im Bergsport mit den Eltern, beginnt 2001 mit dem Skibergsteigen, ab 2006 Teilnahme an Rennen, u. a. für deutsche Meisterschaft und Weltcup; startet 2008 für den DAV bei der WM in Chambery. Nach dem Sieg des Transalpine Run 20212 (in 8 Tagen 350 km durch die Alpen) Aufnahme ins Salomon-Team. Seit Mai 2021 Markenbotschafter für Bad Reichenhall Tourismus. Studiert nach einem abgebrochenen Lehramtsstudium für Mathematik und Biologie nun International Management. Lieblingsgipfel ist der Dötzenkopf (1001 m). Hat gerade seinen Führerschein als Paraglider gemacht.
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