Jeden September holen die Schnalser Bauern ihre Schafe über das knapp dreitausend Meter hohe Hochjoch zurück ins heimische Südtirol. Und das seit nunmehr sechstausend Jahren.
Von Franziska Horn
Viel Glück wollte ich Doris wünschen, für das diesjährige große Heimholen der Schafe – wie immer der Höhepunkt im Hirtenjahr. Nach etwa neunzig Tagen Sommerfrische kehren die Schafe Mitte September von den Hochweiden im Nachbarland Österreich zurück nach Südtirol. Ein Kraftakt, erst recht in Zeiten von Corona. „Du bist zu spät dran“, lachte Doris. „Seit zwei Tagen sind alle Viecher daheim im Stall!“ Wie es dieses Mal gelaufen ist? „Wie immer eigentlich“, sagt Doris. „Den Schafen ist dieses komische Virus egal. Sie müssen auf die Hochweiden und wieder zurück. Aber das Hirtenfest zum Abschluss hat es heuer nicht gegeben.“ Dann wird die Bergbäuerin nachdenklich. „Du kennst ja die Hirten und auch den Bergbauern Waldenthaler vom Sonnenberg drüben im Vinschgau. Er hat mir beim Wiederse- hen gleich die Hand zum Begrüßen hingestreckt. Soll ich sie einem bald Neunzigjährigen verweigern? Nein. Ihm ist Corona egal. Er sagt, ob er heut stirbt oder in zehn Jahren, ist ihm eh wurscht!“ Im abgelegenen Schnalstal sind keine Krankheitsfälle bekanntgeworden, erzählte Doris. Warum wohl? „Des mit dem Bussi-Bussi machen wir eh net so!“, meint sie trocken. „Man schmeißt sich ja schließlich nicht jedem gleich an den Hals!“
Im vorigen Jahr war ich dabei, beim großen Zug der Wanderschafe. Ich weiß, was der Treck für Zwei- und Vierbeiner bedeutet. „Mit die Schof’ gian“, so nennen es die Schnalser Bauern, wenn sie ihre wolligen Vierbeiner über dreitausend Meter hohe Alpenpässe treiben. Mit den Schafen gehen – das klingt nach einem entspannten Spaziergang im Park. Dabei ist der tausendfüßige Treck über den Alpenhauptkamm ein anstrengender Höhentrip und gefährlich ebenso für Mensch wie Tier. Dennoch reicht die Tradition dieses Schafzugs beinahe sechstausend Jahre zurück. Sie ist also älter, als es die Pyramiden von Gizeh sind – und noch mal tausend Jahre älter als „Ötzi“, die bekannteste Gletscherleiche der Welt. Dieser „Mann aus dem Eis“ wurde genau hier an den vergletscherten Übergängen zwischen Nord- und Südtirol entdeckt. Der Fundort? Sei kein Zufall, heißt es, denn er liegt in der Nähe der althergebrachten Route, über den ja nicht nur dieser archaische Zug seit Urzeiten verläuft.
Seit damals also führen die Schnalstaler, kurz „Schnolser“, ihr Vieh auf zwei Routen von Südtirol ins nördlich gelegene Ötztal: jeweils über das Hoch- und Niederjoch, über schmale Pfade, weglos über Felsen, manchmal durch Schnee. Der tagelange Zug der Wanderschafe ist eine ebenso legendäre wie gelebte Tradition. Und er ist eine Strapaze, eine Reise, die nicht jedes Tier überlebt und auch Gefahren für die Hirten birgt. Bis Mitte September, etwa hundert Tage, haben die Tiere beim Sömmern verbracht, abgeschieden in Gruppen und Grüppchen, haben Kräuter gezupft und Junge bekommen, in Freiheit, weit verstreut auf den Innerötztaler Hochweiden, in Karen und Bergwiesen hoch über dem Hochjochhospiz. Tagelang suchen dann zehn, zwölf Hirten die Steilflanken ab, treiben versprengte Schafe zum Sammelgatter unterhalb des Hochjochhospizes. Beim großen Schaftreiben dabei zu sein, empfand ich als Ehre, obwohl ich das Schnalstal und die Bergbauernfamilie von Doris seit mehr als dreißig Jahren kenne. Ich sollte sogar helfen – und nicht einfach nur mitgehen. Am Freitagabend trafen wir uns auf dem Hochjochhospiz. Doris ist Jahrgang 1978 und stammt aus einer Familie von Apfelbauern aus dem Burggrafenamt. Sie hat Lehramt studiert, später in einer winzigen Dorfschule im Schnalstal unterrichtet und schließlich Alexander Rainer, einen Bergbauernsohn aus dem Schnalser Dorf Unserfrau, geheiratet. Seit ein paar Jahren folgt sie der Tradition des Tals und züchtet eigene Schafe.
„Das Schnalser Schaf ist nicht irgendein Schaf“, sagte sie oben am Hochjochhospiz und zeigte auf drei Tiere, die bimmelnd und blökend vorbeitrabten. „Das ist eine eigene Rasse, mittelgroß, siebzig Kilo schwer, mit einer gebogenen Ramsnase, einer kleinen Nasenfalte darüber und einem ziemlich hellen Wollvlies.“ Und: „Es ist geländegängig – hat harte Klauen und eine Statur, die das Kräuterzupfen sogar in fünfundvierzig Grad steilen Hängen erlaubt.“ Doris hat ein Herz für seltene, vom Aussterben bedrohte Rassen. Das gilt allerdings auch für Linda, den quicklebendigen Appenzeller Sennenhund, der nervös neben ihr kauerte und vibrierend vor Anspannung auf neue Befehle harrte.
Zum Schafeheimholen sind Doris und
ich von Kurzras im Talschluss etwa achthundert Meter zur Schöne-Aussicht-Hütte
aufgestiegen, wo die Gletscher unter der
Grawand schneeweiß in der spätsommerlichen Sonne leuchteten. Von der Hütte
führt ein Bergpfad über die Grenze nach
Tirol, vorbei am kleinen Zöllnerhaus, an
den Steinmandln in Richtung der markanten Wildspitze und dann hinunter ins Venter Tal, über die rauschende Venter Ache
und schließlich hinauf zum Hochjochhospiz. Weil dieser uralte länderübergreifende
Schafwandertrieb, auch Transhumanz genannt, die Grenze zwischen Nord- und Südtirol passiert, wurde er 2011 als immaterielles Kulturerbe der Unesco anerkannt. Zwei Adler kreisten über den Rofenbergköpfen. Das war imposant anzuschauen –
aber aus Sicht der Bäuerin eine Gefahr.
„Die holen sich die Lämmer“, sagte Doris,
„und damit sie noch hilfloser sind, picken
sie ihnen als Erstes die Augen aus.“ Drinnen am Stammtisch im Hochjochhospiz saßen schon ein paar Schafbauern. Der älteste war der Niedermair-Hans, genannt „der
Waldenthaler“, Ende achtzig und echtes
Schäferurgestein. Seit er zehn ist, geht er
den Weg über die Pässe, vom heimischen
Vinschgauer Sonnenberg übers Taschljoch
hinüber zum Rofenberg, hin und zurück,
im Frühjahr und Herbst, viermal im Jahr.
Das macht zusammen viele hundert Male
in seinem Schäferleben. „Wirst sehn, das
Z’sammsuchen ist das Schwerste vom ganzen Heimholen“, sagte Doris. „Mindestens
zwei, drei Tage lang brauchen die Hirten
zum Absuchen der Bergflanken, denn
,d’Schof‘ tauschen die Bergwiesenfreiheit
nur ungern ein gegen den engen heimischen Stall.“ Draußen stand die Sonne
schon tief. Vor dem Hochjochhospiz suchte der Vinz’n Hons mit seinem Guggar,
dem Fernstecher, die Berghänge Meter für
Meter ab. Sein älterer Bruder, Willy
Gurschler, ist Chefhirte, regelmäßig verbringt er hundert Tage heroben, allein mit
den Schafen. Willy ist Jahrgang 1954, seit
vierzig Jahren geht er zum Hüten. „Sauteufel“ nennt er die Raben, die ebenfalls den
Lämmern die Augen auspicken und sie
dann lebendig tranchieren. „Etwa vierzig
Lämmer holen sich Vögel wie Adler und
Bartgeier pro Jahr!“, schimpfte er.
Seinen Beruf hat Willy vom Vater gelernt: Vinzenz Gurschler,
dem Hofnamen nach „Weger-
Vinz“ genannt. Er war noch für
viertausend Schafe verantwortlich. Im Tal nannte man ihn „Seine Heiligkeit“ – das zeigt, welch hohen Status ein
Schäfer genießt. Die Vinz’n-Dynastie gehört sozusagen zur Schnalser Hirten-Aristokratie. Zwölf Kinder hatte der Weger-
Vinz mit seiner Frau Florina, die Hälfte
von ihnen helfen beim Schafeheimholen.
Plötzlich entdeckte der Vinz’n Hons zwei versprengte Fellknäuel auf dem Hang gegenüber, weit oben, knapp unterhalb der Kreuzspitze. Was die Viecher so spätabends oben am Gipfel treiben? Nachts, erklärte der Vinz’n Hons, ohne wirklich etwas zu erklären, stiegen sie höher als am Tag. Sofort schickte er einen Hirten hinauf, sie zu holen. Eine Stunde später war er wieder unten. Und fluchte. Das Muttertier hatte ihn angegriffen, als er das Jungtier schnappen wollte – beinahe hätte die wilde Alte ihn mit einem kräftigen Stoß über die Felsen gehebelt. Nach der Nachtruhe stiegen wir frühmorgens Richtung Vernagtferner auf. Kleine Stoßtrüppchen von Schafen kamen entgegen, trabten brav Richtung Gatter, andere verdrückten sich in Mulden oder verstiegen sich in senkrechte Felsflanken. Ein gellender Pfiff schon genügte. Pfeilschnell sprintete einer der Hirtencollies den Hang hinauf, drängte die Schafe vom drohenden Abgrund weg. Das Trio hatte keine Wahl. Missmutig maulend drehte es ab, zuckelte notgedrungen hangabwärts – dahin, wo schon alle anderen Schafe warteten.
Vier Befehle genügen den Hirten für die Hunde: „Aui! Oi! Aret! Schleich’n.“ Das heißt: Rauf! Runter! Halt! Anschleichen! An den Boden geduckt, pirschte sich Linda dann knurrend an ein widerspenstiges Tier heran. Ein kurzer Zwicker, ein empörtes Mööööh! – schon stand die Abtrünnige wieder bei der Herde. Dieses exakt choreographierte Strategie- und Schauspiel, in dem jeder seine Rolle kennt, wiederholte sich den ganzen Tag. Mit hängender Zunge sicherten die Hunde die Flanken der Herde, umkreisten, bedrängten, schnitten die Wege der ausbüxenden Tiere ab. Viele Male stiegen die Hirten hinauf und hinab, weglos, viele hundert Höhenmeter am Tag. Es ist ein Knochenjob in einer Arbeitswelt weitab jener Gore-Tex-Bergsteigerromantik der Hobbyalpinisten. (...)