Erst drehte Pier Paolo Pasolini in Matera das Matthäus-Evangelium, dann kam Hollywood in die süditalienische Höhlenstadt. Bibelfilme machten Europas Kulturhauptstadt 2019 zum zweiten Betlehem.
Von Franziska Horn
"Wir gelten nicht als Menschen, nicht als Christen, wir sind Tiere, denn Christus kam nur bis Eboli, aber nicht weiter, nicht zu uns." Sätze wie diese hörte Schriftsteller Carlo Levi oft in der Basilikata, einem scheinbar gottverlassenen Flecken auf der Landkarte, ganz unten im Süden, an der Schuhsohle des italienisches Stiefels. Hier, im Bergdorf Aliano, lebte der Antifaschist Levi von 1935 bis 1936 in der Verbannung. 1945 erschien der autobiografische Roman "Christus kam nur bis Eboli", der ihn weltbekannt machte.
Knapp 20 Jahre später steht Jesus plötzlich südlich von Eboli: in der Höhlenstadt Matera. "Jerusalem, noch immer steinigst du meine Botschafter. Doch siehe, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, dieser Ort wird verlassen sein und unbewohnt", spricht er von den Dächern zu Jüngern, Römern und Pharisäern - und in Filmkameras.
Den Jesus in Pier Paolo Pasolinis berühmtem Bibel-Filmepos "Das 1. Evangelium - Matthäus" spielte 1964 der katalanische Schauspieler Enrique Irazoqui. Heimlicher Hauptdarsteller aber ist die Stadt Matera - mit ihren Mauern, ihren Steinen, die auf Italienisch sassi heißen. Nach ihnen benannt ist auch das Altstadtviertel mit den uralten Höhlenwohnungen, in denen 1950 noch rund 15.000 Menschen wohnten.
Matera, für Pasolini der perfekte Drehort
Mitte der Sechzigerjahre, nach dem erzwungenen Exodus unbewohnt, war das Leben aus den Höhlen verschwunden und die schwarzen Löcher verströmten eine unheimliche Aura. Regisseur Pier Paolo Pasolini erkannte den starken Sog des Szenarios, er hatte zuvor in Palästina vergeblich nach passenden Drehorten für seinen Bibelfilm gesucht.
"Pasolini wählte Matera, weil es eine zeitlose Bühne war, existenzialistisch und ein Ort der Seele, ein Gemütszustand", sagt Peppe Notarangelo. "Er drehte hier nur in Anzug und Krawatte. Aus Respekt vor der Geschichte der Stadt und ganz gegen seine Gewohnheit."
Pier Paolo Pasolini in Matera
Notarangelo sitzt vor dem Bildschirm seines Studios in Materas Neustadt und klickt sich durch Filmarchive. Sein Vater Domenico Notarangelo, Fotojournalist der linken Zeitung "Unità", begann 1960 als einer der Ersten, die Stadt Matera und ihre Einwohner abzubilden. In Tausenden Schwarz-Weiß-Fotos zeigte er die Armut und das harte, karge Leben, das sich in die Falten um Augen und Münder der Menschen grub. Gesichter, die auch Pasolini bewegten - und so beschloss er, die Materaner als Laiendarsteller in seinem Film einzusetzen.
Notarangelo senior, der 2016 verstarb, wirkte selbst als Sprechkomparse bei Pasolinis Dreharbeiten mit und spielte einen römischen Zenturio. "Weil das Fotografieren beim Dreh verboten war, versteckte er die Kamera unter dem Römerröckchen und knipste heimlich", erzählt sein Sohn. Die Bilder gingen um die Welt und sind heute Teil des Archivs, das die Söhne Peppe, Mario und Toni derzeit digitalisieren.
Über 50 Filmproduktionen entstanden seit 1950 in Matera. Zu den Drehorten gelangt man am besten mit einer Reiseführerin wie Dora Cappiello. Sie beginnt ihre Tour an der Kirche San Pietro Caveoso, die spektakulär über dem Abgrund der Gravina thront. "Hier auf dem weiten Platz vor der Kirche wurden etliche Filmszenen gedreht", sagt Cappiello, deren Angehörige auch Höhlenbewohner waren. "Dort oben auf dem Murgiaplateau drehte Pasolini die Kreuzigungsszenen von Golgata."
"Rührend traurige Schönheit der Stadt"
Die ersten 30 Jahre gaben sich die berühmtesten italienischen Regisseure in Matera die Filmklappe in die Hand: von Neorealisten wie Carlo Lizzani und Roberto Rossellini, die die "rührend traurige Schönheit der Stadt" (Carlo Levi) rühmten, bis zu Dino Risi, Lina Wertmüller oder Francesco Rosi, die den Flair der Höhlenstadt für Bibelfilme nutzten. Später folgten die Brüder Taviani, Michele Placido und Giuseppe Tornatore.
Dann kam Hollywood. "1983 drehte Bruce Beresford das Bibeldrama 'König David' mit Richard Gere", erzählt Cappiello. "Leider wurde bei der Produktion eine alte Kirche zerstört." Der Film war ein Flop. Gere erntete eine Goldene Himbeere für seinen Part, die Höhlenstadt dagegen festigte ihren Ruf als "zweites Bethlehem".
"In den Sassi lebten die Leute noch wie im Mittelalter, das war gut für die Kameras", sagt Cappiello und steigt eine steile Steintreppe hinauf. Kapernpflanzen und Kaktus grünen zwischen den Mauerritzen. "Dort unten an der Porta Pistola wurde das Remake von 'Ben Hur' mit Morgen Freeman gedreht, und Pasolini filmte dort den Einzug nach Jerusalem."
Dora Cappiello stammt von hier, studierte aber in Rom. Als sie 2002 zurück nach Matera ging, erklärte man sie für verrückt. Doch die Süditalienerin wollte in ihrer Heimat etwas aufbauen. "Anfangs war es nur ein Hobby, als Guide zu arbeiten." Heute hat ihre Agentur Ferulaviaggi immerhin fünf Mitarbeiter.
Mel Gibson und "Die Passion Christi"
"Die Architektur der Stadt, die Felsen - als ich Matera das erste Mal sah, hab ich schier den Kopf verloren", sagte Mel Gibson, der 2004 mit "Die Passion Christi" eine brutale und radikale Inszenierung der letzten zwölf Stunden im Leben von Christus ablieferte.
Der Australier hatte die Kreuzigungsszenen heimischer Kirchen studiert und sich zur Vorbereitung Messen auf Latein lesen lassen. Dann spielte die Natur: Beim Dreh der Kreuzigung zuckten grelle Blitze über den archaischen Karstrücken der Murgia Timone und verstärkten die eh schon düstere Szene.
Wie wichtig ist der Kinotourismus für Matera? "2017 besuchten 400.000 die Stadt, 2019 erwarten wir doppelt so viele, weil Matera ja Europäische Kulturhauptstadt ist. Aber die Prognose ist wohl zu niedrig", sagt Cappiello. Dann steuert sie das historische Museum "Casa Noha" an, wo die permanente Videoinstallation "I sassi invisibili" historische Einblicke in die Geschichte der Stadt zeigt, die einst als der Schandfleck Italiens galt und von großer Rückständigkeit geprägt war.
Genau darum, weil Matera wie aus der Zeit gefallen scheint, liebt das Kino die Kulissen der heutigen 60.000-Einwohner-Stadt. "Leider haben die zahlreichen Filme wenig hinterlassen", bedauert Peppe Notarangelo. "Es gibt keine Kinoindustrie, kein Filmmuseum, kein Festival." Immerhin gibt es in der Stadt drei Kinos, und wer abends das Ristorante "La Lopa" in der Via Bruno Buozzi besucht, kann im ehemaligen Weinkeller die schönsten Ausschnitte aller in Matera gedrehten Filme sehen.
Franziska Horn ist freie Autorin von SPIEGEL ONLINE. Die Reise wurde zum Teil unterstützt durch ENIT und APT Basilicata.