Gabriel Abbas* und seine Freunde haben gespart, sie haben Hammelfleisch gekauft, was nicht so einfach ist, wenn es nur einen Supermarkt für fast 18.000 Menschen und keinen Kühlschrank gibt. Das Essen haben sie in Plastiktüten gepackt und nun möchten sie Fastenbrechen. Auf einem Felsvorsprung am Rande des Lagers, wo es etwas ruhiger und das Elend zumindest ein paar Meter weg ist. Doch die Polizei lässt sie nicht.
Zwei Männer in Uniform haben sich vor Abbas aufgebaut. "Zurück ins Camp," sagt einer, der andere streckt die Hand in Richtung der Zelte aus. "Hier ist doch auch noch Campgelände", sagt Abbas. "Das ist nicht dein Land", antwortet der Polizist. "Ich will dieses Land doch gar nicht", sagt Abbas. "Wir möchten nur grillen."
Patrouillen in den FeldernEs ist Eid al-Fitr. Fastenbrechen. Seit zwei Tagen ist der 38-jährige Sudanese auf den Beinen. Und seit zehn Wochen darf er, genauso wie über 17.000 andere Männer, Frauen und Kinder, das Lager nicht mehr verlassen. Da das ehemalige Militärlager Moria auf jedoch nur etwa 3.000 Menschen fassen kann, leben die Meisten in selbstgebauten Hütten und Zelten in den umliegenden Olivenbaumfeldern. Seit der Ausgangssperre wird die Hauptstraße zum Camp durch zwei Checkpoints kontrolliert. Um den Rest der Olivenbaumfelder patrouillieren sie immer wieder. So wie jetzt.
"Zurück ins Camp!" wiederholt der Polizist. "Wir sind nur ein paar Meter vom letzten Zelt entfernt," sagt Abbas. Es geht eine Weile hin und her, bis die Polizei androht, ihn auf die Polizeistation zu nehmen. Dabei wollten sie heute einmal den Stress vergessen. Musik hören und das Fleisch grillen, für das sie alle zusammengelegt haben. Abbas, den sie hier wegen seiner durchtrainierten Statur "den Boxer" nennen, dreht sich um. Zusammen mit einem Freund zieht er die schwere Plastiktüte voller Maiskolben und Fruchtsaft über den Boden zu einem tiefergelegenen Schattenplatz, unter einem halb abgeholzten Olivenbaum. "Ich bin nicht zum Kämpfen nach Europa gekommen", sagt Abbas.
Während in Griechenland das Ringen um die Touristensaison beginnt und sich die Bars an der Hafenpromenade von Lesbos' Hauptstadt Mytilini wieder füllen, geht die Ausgangssperre für die Menschen in Moria zum zweiten Mal in die Verlängerung. Obwohl es bis heute keinen bestätigten Corona-Fall im Camp gab, dürfen die Allermeisten bis zum 7. Juni das Gelände nicht verlassen. Nur 70 Menschen können täglich mit einer Spezialgenehmigung an den Polizeisperren vorbei.
Aussicht versperrtAbbas, der im Englisch studierte und später in Ägypten lebte, steckt seit neun Monaten auf Lesbos fest. Seine Hütte aus Planen baute er kurz nach seiner Ankunft an den äußersten Rand der Olivenbaumfelder. Er wollte den Überblick behalten. Nicht im Chaos versinken. Er wollte dort sein, wo der Gestank der Müllberge nicht hinaufreichte. Wo der Rauch der Feuer nicht in den Augen brennt. Zudem, sagt er, kann er als ehemaliger Soldat nur dann schlafen, wenn es absolut ruhig ist. Aber heute ist es längst nicht mehr ruhig an seiner Hütte. Sie ist jetzt von Zelten umzingelt. Direkt vor ihm wachsen zwei Tomatensträucher durch den Stacheldrahtzaun, den eine syrische Familie zum Schutz vor Dieben um ihr Zelt gewickelt hat.
Abbas Augen sind, wie seine Schultern und Füße, immer in Bewegung. Er ist ein Einzelgänger. Doch einer, den alle im Camp kennen. Er kam mit einem Ziel nach : zu Überleben. Als die UN einen Teil der Friedensmission in Khartum einstellte, verlor er seinen Job als Sicherheitsmann. In dieser Zeit verbrachte er Tage und Nächte mit den dort stationierten russischen Piloten. Das Englisch, das er in der Universität von Khartum studierte, hat bis heute einen Russischeneinschlag. Er rollt das "R" auf der vorderen Zungenspitze. Im Camp grüßt er die verschwitzen Gesichter in den Zelten auf drei Sprachen. Insgesamt spricht er sieben.