Großbritannien drohen monatelange Ausgangssperren. Premier Johnson - selbst mit dem Coronavirus infiziert - droht mit noch härteren Einschränkungen, falls "wissenschaftlicher und medizinischer Ratschlag uns das vorschreibt".
"Lockdown" in Großbritannien
Von Florian Müller/AFP
London - Wer wissen will, wie sich der britische "Lockdown" anfühlt, der muss den Londoner Stadtbezirk Southwark besuchen. Southwark ist das Epizentrum der Corona-Krise in Großbritannien. Kein anderer Bezirk im Land hat so viele Infizierte.
In Southwark gilt wie im ganzen Land eine Ausgangssperre. Vor den großen Supermärkten gibt es Warteschlangen und Sicherheitsleute wie sonst vor Diskotheken. Nur eine bestimmte Anzahl Kunden darf gleichzeitig ins Geschäft. Waren des täglichen Bedarfs werden rationiert - Seife, Fleisch und Tiefkühlgemüse sind dennoch Mangelware. Die beliebten Pubs, Museen und Märkte des Bezirks sind seit mittlerweile einer Woche geschlossen und wer nachts auf den sonst belebten Straßen spazieren geht, trifft kaum Menschen.
Dieser Zustand könnte nach den jüngsten Aussagen der britischen Regierung noch mehr als ein halbes Jahr andauern. Mehr als 22.000 Menschen wurden bis Montagabend in Großbritannien positiv auf das Virus getestet, rund 3000 mehr als noch am Vortag. Die Zahl der Toten stieg auf mehr als 1400.
Unter den Infizierten befinden sich auch Premierminister Boris Johnson, Gesundheitsminister Matt Hancock sowie Thronfolger Prinz Charles. In keinem anderen Land der Welt ist die politische Elite so stark betroffen - was zumindest teilweise selbst verschuldet ist.
Johnson sitzt seit Freitag zusammen mit seiner schwangeren Verlobten Carrie Symonds in seiner Wohnung im Regierungssitz Downing Street 10 in Quarantäne. Seine Symptome seien "mild", sagt er. Die Regierung führt er nun per Videoschalten, mit der Bevölkerung kommuniziert er vor allem über Twitter. Seinen Nutzernamen hat er um den Zusatz #StayHomeSaveLives (Bleib zuhause, rette Leben) ergänzt.
Es ist ein Ratschlag, den der Premierminister lange Zeit selbst ignoriert hatte. Noch Anfang des Monats sagte er, er wolle mutmaßlich Infizierten weiter die Hand schütteln. Noch vergangene Woche stand er dem Parlament persönlich Rede und Antwort. Das Parlament ist inzwischen in Zwangspause, viele Abgeordnete sind mit dem Coronavirus infiziert.
Infizierte oft Stunden in der WarteschleifeAm vergangenen Donnerstag hatte Johnson seinen letzten öffentlichen Auftritt, als er zusammen mit dem Rest Landes für die Ärzte und Pfleger des National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst, NHS) applaudierte. Er klatschte für den NHS, den seine konservative Partei mit ihrem Sparkurs der vergangenen zehn Jahre so weit geschrumpft hat, dass mutmaßlich Infizierte nun Stunden in der Warteschleife verbringen müssen, bis sie Rat bekommen. Und der nicht genügend Kapazitäten hat, um seine eigenen Mitarbeiter in Verdachtsfällen auf das Virus zu testen.
Johnson verkündete nun, dass 20.000 ehemalige NHS-Angestellte wieder in den Dienst eingetreten seien. Die Regierung rekrutiert auch Flugbegleiter, die wegen des Zusammenbruchs des weltweiten Luftverkehrs gerade beschäftigungslos sind. Sie sollen in einem kurzfristig zum Krankenhaus umfunktionierten Konferenzzentrum im Londoner Osten aushelfen, das in den kommenden Wochen bis zu 4000 Erkrankte aufnehmen soll.
Johnson befürchtet Verschlimmerung der SituationIn diesen Tagen bekommen rund 30 Millionen Haushalte in Großbritannien auch ein Schreiben der Regierung in den Briefkasten. Darin warnt Johnson, dass die Situation erst noch schlimmer werde, bevor Besserung in Sicht sei. Er droht mit noch härteren Einschränkungen, falls "wissenschaftlicher und medizinischer Ratschlag uns das vorschreibt".
Die aktuellsten MeldungenFür die Menschen in Southwark sind das keine guten Aussichten. Das "borough", wie die Bezirke hier heißen, hat eine der höchsten Bevölkerungsdichten in England und die Zahl der Arbeitslosen und Niedriglöhner ist vergleichsweise hoch. Je länger die Krise andauert, desto größer werden die sozialen Probleme und desto gereizter werden die Menschen. Schon jetzt sind Wortgefechte zwischen Fremden in Parks und an der Supermarktkasse alltäglich.
Das berühmte britische Motto "keep calm and carry on" ("Bleib ruhig und mach' weiter"), an dem die Regierung so lange festhielt, es hat in diesen Tagen seine Gültigkeit verloren.
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