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"Cultural turns" in der Geschichtswissenschaft

Am Anfang stand der „linguistic turn" um Ludwig Wittgenstein und Ferdinand de Saussure, der die Definition des Menschen über die Sprache neu entdeckt. Wer die Wirklichkeit verstehen wollte, war mehr zu Beginn des 20. Jahrhunderts denn je von der Sprache der Menschen abhängig. Radikal aufgefasst war die Sprache der Schlüssel zur Logik und ermöglichte allein den Diskurs. Einige Zeit später erfasste dieser Paradigmenwechsel die Kultur- und Sozialwissenschaften. In den 1980er, spätestens den 1990er Jahren kam dort der „cultural turn" als Oberbegriff auf, der kulturelle Paradigmenwechsel.


Ein wissenschaftlicher „turn" scheint notwendig, um die Grenzen zwischen ursprünglich fachspezifischen Forschungsrichtungen zu überwinden. „ Turns" wirken inter- und transdisziplinär, sie verbinden etwa gemeinsame Analysekategorien in konkreten Anwendungsbeispielen und entwickeln neue Methoden, sie sie ermöglichen die Wahrheitsfindung über den Diskurs anstelle des Herausarbeitens einer historischen Wahrheit anhand harter Fakten. Den einen speziellen „ cultural turn" gab und gibt es demnach nicht. Doris Bachmann-Medick hat daher ein ganzes Konstrukt verschiedener „ turns" näher ausgeführt, die sich dahinter verbergen. So gebe es den „ iconic turn", den „ spatial turn", den „ postcolonial turn", den „ performative turn" und noch einige mehr. Die Kulturwissenschaften würden sich damit nicht nur kulturell, sondern auch gesellschaftlich neu ausrichten.[i]


Bezogen auf den Wahrheitsanspruch dürfte vor allem der „performative turn" von großem Interesse sein: Dahinter verbergen sich die Begriffe Performanz, Inszenierung und Ritual. Es bilden sich Verknüpfungen zur Theaterwissenschaft, zur Ritualforschung, aber auch die Geschlechterforschung, die zeigen, dass Geschichte durchaus auch öffentlich aufgeführt und inszeniert wird - und dadurch Wahrheiten konstruieren kann. Damit löst sich die Kulturwissenschaft von der Macht der Sprache, die der „linguistic turn" einst vorgegeben hatte, stattdessen nimmt die Wissenschaft Forschungsdimensionen wie Ritualisierungen oder Körperlichkeiten in ihren Diskurs auf. Wahrheitsfindung und Kommunikation finden damit nicht (mehr) allein über die Sprache statt, sondern öffnen sich für verschiedene Darstellungs- und Ausdrucksformen.


Wissenschaftliche „Turns" verfügen über durchaus identitäts- und bedeutungsstiftende Attribute, sie helfen, die Geisteswissenschaften mit anderen Richtungen tiefgehend zu verknüpfend. Doris Bachmann-Medick brachte den Gedanken auf, Kulturwissenschaften daher in Zukunft als „Übersetzungswissenschaft" zu betrachten, die nach der Abkehr von veralteten Paradigmen für eine komplette Neuorientierung und eine Anbindung „des Kulturellen [a]ns Materielle, [a]ns Ökonomische, [a]ns Soziale und Politische"[ii] möglich macht. Es existieren nun diverse höchst unterschiedliche Wirklichkeiten nebeneinander, mit höchst unterschiedlichen Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen. Dies macht weitere, noch größere „Turns" weitaus wahrscheinlicher als die Rückkehr zu einer einzigen „wahren" Wirklichkeit, wie es sie nach den Paradigmen des „ linguistic turn" vielleicht noch gegeben hat.


Literaturangaben

[i] Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, in: Docupedia-Zeitgeschichte (29.3.2010), abgerufen unter: http://docupedia.de/zg/Cultural_Turns?oldid=128766 (letzter Abruf: 18.06.2018).

[ii] Ebd.

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